12. Sonntag nach Trinitatis
Wochenspruch: „Er wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Jesaja 42,3
Leitmotiv: Gottes Geist verändert uns
Angeknackst. Gebrochen. Gebrechlich. Verletzt. Leicht verletzbar. Geschwächt. Gefährdet. Das fällt mir ein zum „geknickten Rohr“. Und dann kommt mir in den Sinn, wie solche Menschen von ihren Mitmenschen beurteilt werden: Empfindlich. Mimosenhaft. Nicht belastbar. Es sind die problematischen Sonderfälle. Es wäre wirklich schön, wenn sie anders wären, einfach ganz normal. Nicht so elend kompliziert. Man bemüht sich um sie. Man beseelsorgt sie. Man empfiehlt ihnen dringend eine Psychotherapie. Man ist sehr skeptisch: Sie werden nicht zurecht kommen im Leben. Sie sind nicht beziehungsfähig. Nicht teamfähig. Nicht tragfähig. Nicht belastbar.
Warum eigentlich lautet der Wochenspruch nicht so: „Er wird das geknickte Rohr stabilisieren und den glimmenden Docht zur hellen Flamme werden lassen“? Warum nur Schutz und Schonung statt Heilung? Weil Gott tatsächlich nicht mehr tut als das. Er tastet unsere Würde nicht an. Er entmündigt uns nicht.
Gnade ist Ermöglichung des Lebens. Gnade ist gewährter Lebensraum. Jeder Atemzug ist Gnade. Dass ich mich bewegen kann. Dass ich denken und entscheiden kann. Gnade ist die allgegenwärtige Bestätigung meines Daseins, das unumschränkte Ja zu meinem Leben hier und jetzt. Es ist gut so, wie ich heute bin, ob geknickt oder nicht. Ich bin willkommen in diesem neuen Tag, in dieser neuen Woche. Es ist gut, dass es mich gibt, so, wie ich jetzt gerade bin.
Das ist garantiert: Gott hat kein Problem damit, dass wir Probleme haben. Er bestraft das geknickte Rohr nicht dafür, dass es geknickt ist. Er belastet es nicht noch zusätzlich. Dann würde es vollends brechen. Darauf dürfen wir uns verlassen: Das tut Gott nicht. Wir Menschen tun es, leider. Wir tun es mit uns selbst: Wir sind geknickt, enttäuscht und traurig, und haben unsere guten Gründe dafür. Wir brauchen dringend Trost. Aber wir nehmen uns selbst nicht ernst. Wir reagieren hart auf unser starkes Bedürfnis. Wir entziehen uns selbst die Lebensfreude. Wir verweigern uns dem Leben. Und wir speisen uns ab mit billigen Ersatzbefriedigungen, die das Bedürfnis durchaus nicht stillen. Wir sind nicht fair zu uns selbst. Nicht freundlich und liebevoll, so wie wir es bräuchten. Und so gehen wir auch mit anderen Geknickten um: Wir werden ungeduldig. Wir akzeptieren sie nicht mehr so, wie wir sind. Erst müssen sie unsere Bedingungen erfüllen. Sonst sind sie nicht in Ordnung.
Was stärkt dich heute, geknicktes Rohr? Was lässt die Flamme der Lebensfreude in der aufleuchten? Was stärkt und ermutigt deinen geknickten Mitmenschen? Gott will, dass wir diese Frage ernst nehmen und jeden Tag neue eine wirklich gute Antwort darauf finden. Gott mutet uns das zu, denn er traut es uns zu.
Hans-Arved Willberg