Über die Beweispflicht der Populisten und Extremisten
Die wohl größte geistige Not unserer Zeit ist die allgemeine Ratlosigkeit, was unter „Wahrheit“ zu verstehen sei. Populisten behaupten irgend einen Unsinn oder offensichtliche Lügen, die Evidenz der Lüge ist so offensichtlich wie die Nackheit des Kaisers in Andersens Märchen, aber wie will man es beweisen? Man könnte ja selbst einer Sinnestäuschung erlegen sein. Also ist man lieber still, um nur ja nicht ungerecht zu urteilen.
Warum können wir nicht einfach zur Lüge „Lüge“ sagen wie das Kind in Andersens Märchen? Weil es so scheint, als fehle uns die Stichhaltigkeit des Diktums „Er hat ja gar nichts an“. Das ist deine Wahrheit, heißt es dann allenfalls, die magst du haben, aber es gibt auch andere Wahrheiten. Im Zeitalter des unsocial Web werden wie bei „Des Kaisers neuen Kleidern“ aus solchen „anderen“ Wahrheiten sehr schnell Mehrheiten: Weil alle es sagen, glauben es alle, was ganz leicht geht, indem man nicht hinschaut, was da wirklich ist, der nackte Kaiser nämlich, und dann kann man sage, was man will, man muss es nur einfach stereotyp und dreist genug behaupten, und dann gilt es auch. Wer aber doch einmal hinschielt und zu argwöhnen beginnt, der Kaiser sei so nackt und hässlich, wie er ist, der zweifelt an sich selbst und seinem Anstand: Man muss doch fair sein und tolerant, und man kann doch nicht einfach „Lüge“ sagen zu dem, was andere für Wahrheit halten, die haben doch auch ihre Gründe dafür, und wer weiß: man will sich doch nichts anmaßen, es kann ja durchaus sein, dass man selbst einem Wahn verfallen ist.
Wie ein böser Zauber liegt diese Beklommenheit über der öffentlichen Meinungsbildung. Dabei ist die Lösung so einfach wie die des schlichten Kindes im Märchen. Es gibt ein entblößendes Kriterium, das die Lüge als Lüge entlarvt: die Beweislast. „Necessitas probandi incumbit ei qui agit“ lautete ein Grundsatz des römischen Strafrechts, der bleibende Gültigkeit hat, weil er logisch ist, auf Deutsch: „Die Notwendigkeit des Beweises liegt beim Ankläger“. Das ist der, „qui agit“, der Agitator. Kennzeichnend für Populisten und Extremisten ist: Sie sind grundsätzlich Agitatoren, nicht konstruktiv, nicht am Dialog interessiert, nicht Lernende, sondern Belehrende, sie treten als die Besserwissenden auf und ziehen ihre Kraft aus der Polemik. Sie klagen an, sie unterstellen, sie verdächtigen und beschuldigen und geben ein selbst gestricktes Bild der Wirklichkeit vor.
In Andersens Märchen sind die beiden Weber die Agitatoren. Sie stellen eine neue Behauptung auf, die sich deutlich von dem unterscheidet, was bis dato als Realität gewertet wurde: Dass etwas sei, wo nichts davon zu sehen ist, und zwar genau das, was sie selbst behaupten, und dass man blind dafür ist, wenn man es selbst nicht sieht. Eigentlich ist das primitiv, denn das kann ja jeder sagen. Die Überzeugungskraft der Populisten, Extremisten und dergleichen liegt denn auch gar nicht in den Argumenten selbst, sondern im erzeugten Schein und in der Propaganda. Der Schein wird mit Vorliebe durch die Verknüpfung von Indizien hergestellt: Hier hat man einen „Beweis“ und dort noch einen und so weiter, und damit ist die Behauptung bewiesen. Wesentlicher Teil der Propaganda ist es, Gegenargumente auszublenden, zu leugnen und zu diffaminieren. Am effektivsten ist es, den Beschuldigten genau das vorzuwerfen, was man selber tut.
Die leichtgläubigen Erwachsenen in „Des Kaisers neue Kleider“ machen genau den Fehler, der heutzutage so übel weit verbreitet ist: Sie lassen sich weis machen, die Beweislast dafür, dass sie ihren Augen trauen können, liege nun auf einmal bei ihnen. Dadurch werden sie allesamt zu Mittätern der Propagandisten und dienen deren üblen Zielen. Dabei stünde nicht nur die Logik des Rechts zur Verfügung, um die notwendigen Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge zu ziehen, sondern auch die Logik der Wissenschaft und der Ethik, weil hier eben dasselbe Prinzip axiomatisch gilt: „Notwendigkeit des Beweises liegt beim Ankläger.“ Konkret heißt das für Wissenschaft und Ethik: Du darfst behaupten, was du willst, und du hast grundsätzlich wie alle anderen den Anspruch darauf, damit ernst genommen zu werden. Zum Beispiel darfst du behaupten, dass der momentane wissenschaftliche Konsens über die Gestalt des Universums falsch sei, in Wirklichkeit sei die Erde eben doch eine Scheibe mit dem Himmel als Glocke darüber. Aber die Beweislast liegt bei dir. Es ist nicht damit getan, dass du dieses und jenes Indiz dafür aufführst, sondern du musst a) das gesamte System deiner Gegner überzeugend widerlegen (also im Prinzip auch schlauer als Einstein sein) und b) ebenso überzeugend deine eigene Theorie belegen. Andernfalls kannst du gern weiterhin bei deiner Meinung bleiben, nur stehe dann auch dazu, dass es sich um eine weltanschauliche Sondermeinung handelt, die derzeit wissenschaftlich nicht bekräftigt werden kann. Du darfst auch zum Beispiel behaupten, dass dunkelhäutige Menschen und Frauen (etwas) weniger Gehirn haben und (etwas) minderwertig sind im Vergleich zur „weißen Rasse“ und richtigen Männern. Aber die Beweislast liegt bei dir, weil der ethische Konsens, stark untermauert vom wissenschaftlichen, heute sehr groß ist, dass dem nicht so ist. Du darfst behaupten, dass der Klimawandel gar nicht stattfindet oder harmlos ist und dass Homosexualität kriminell ist. Aber die Beweislast liegt bei dir. Du darfst auch behaupten, dass die Freiheit, in der du lebst und von der du überaus großen Nutzen hast, gar nicht existiert, weil die Demokratie nur eine Seifenblase sei, ein manipulatives Konstrukt der Mächtigen. Du darfst behaupten, dass die Seriosität der Berichtestattung in den freien Medien nur Lug und Trug ist, mitnichten seien sie frei. Aber die Beweislast liegt bei dir.
Um einer Beweislast juristisch, wissenschaftlich und ethisch gerecht zu werden, genügt es nicht, einige Indizien zusammenzuknüpfen und daraus Hypothesen zu formulieren, und schon gar nicht geht es an, diese dann bereits vollmundig als „Wahrheit“ zu deklarieren. Gerade bei ethischen Angelegenheiten wie zum Beispiel der Vertrauenswürdigkeit der demokratischen Politik oder der Pressefreiheit lassen sich kinderleicht viele Indizien dafür sammeln, wie schlimm und verrucht das alles sei, so wie pubertierende Kinder über eine Fülle von „Beweisen“ für die Unmöglichkeit ihrer Eltern verfügen, aus dem einfachen Grund, dass diese wie die Journalisten und Politiker auch nur Menschen sind und Fehler machen, immer wieder auch schlimme und solche mit üblen Konsequenzen. Aber für ein gerechtes Urteil reicht das nicht.
Das, was als wissenschaftlicher und ethischer Konsens aus einem weithin ungezwungenen Diskurs entstanden ist, trägt das Siegel der Glaubwürdigkeit. Man kann davon ausgehen, dass es so ist: man darf sich darauf verlassen. Ohne solche Grundlagen sind wissenschaftliches Forschen und ethischer Fortschritt überhaupt nicht denkbar. Man kann alles anzweifeln, aber es entbehrt der Logik, das zu tun. Doch diese verlässlichen Grundlagen sind nicht zementiert, sondern dynamisch: Vieles bleibt tragfähig, anderes wandelt sich, weil man dazu lernt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn wache und gebildete Menschen, die Dinge anders sehen als die andern, der Beweislast auch tatsächlich gerecht werden. Gott sei Dank geschieht das Tag für Tag. Es findet statt, weil wir noch immer in juristischer, wissenschaftlicher und ethischer Freiheit leben, was nur möglich ist unter den Bedingungen der politischen Freiheit, welche heißt: Demokratie. Gewiss, du darfst das anders sehen. Aber die Beweislast liegt bei dir.