Very Isolating People

Kraft Digitalisierung wirft die Ursprungsbedeutung des Akronyms VIP den Schatten einer Nebenbedeutung, die derzeit so in den Vordergrund zu treten scheint, dass sie sich von der Hauptbedeutung nicht mehr unterscheiden lässt: Die Very Important Persons sind zugleich Very Isolating Persons. Sie scheinen es als ihr Markenzeichen zu betrachten, keine Zeit für Antworten zu haben. Man erreicht sie nicht. Am einfachsten könnte es für sie sein, sich durch E-Mails erreichen zu lassen, weil sich das asynchron bearbeiten lässt, das heißt: man kann es planen. Eine durchaus hilfreiche Erwiderung mittels E-Mail muss mit allem Drum-und-Dran: Öffnen, Überfliegen, Schreiben, Senden, nicht länger als eine Minute beanspruchen. „Hast Du mal eine Minute Zeit für mich?“ „Nein.“ Wenn man wirklich eine sehr wichtige Person ist und auf diese Rückmeldung mit Augenverdrehen reagieren würde (woher soll ich denn die zwei Stunden täglich für die 120 E-Mails täglich nehmen?), dann wäre es eigentlich (vielleicht schon längst) dringend geboten, sich bewusst zu machen, mit welchem Preis man sein Verhalten tatsächlich bezahlt: Man geht demütigend und entwürdigend mit vielen Menschen um, die wirklich Resonanz verdient hätten, wenigstens ein Minimum an Höflichkeit. Sicher arbeitet man gerade mit Hochdruck an einem Very Important Project und vielleicht auch noch sogar an einem mit hoher ethischer Brisanz. Vor lauter Tunnelblick merkt man nicht, dass man dabei fast schon über Leichen geht. Oder ist es gar nicht mal der Tunnelblick, sondern man steckt den Kopf in den Sand? Weil man die Unfähigkeit, mit der digitalen Überflutung anständig umzugehen, als sicheres Zeichen interpretiert, wirklich very, very important zu sein, setzt man eine Norm der Unnahbarkeit, die an absolutistische Herrscher erinnert. Audienz gewährt zu bekommen, sei es auch nur für ein Minütchen, wäre ein besonders huldvolles Zeichen herablassender Gnade. Aber wie wichtig nehmt ihr ach so wichtigen Riesen eigentlich die Bedürfnisse derer, die etwas von euch wollen, weil sie gute Gründe dafür haben? Ja klar, man könnte es natürlich auch mit andern Medien probieren, an euch heranzukommen: Anrufen etwa. Doch damit geht ihr nicht anders um, stört es eure Kreise doch erst recht.

Ungefähr 30 % der Menschen in Deutschland und seinesgleichen sind sozial isoliert. Soziale Isolation ist das Resultat von Resonanzlosigkeit. Der rituelle Tanz um die goldenen Kälber unserer Gesellschaft vollzieht ich im Rhythmus des Mantras „Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit…“ O doch, wir haben Zeit. Es fragt sich nur, wofür wir sie verwenden. Es ist eine Frage der Prioritäten. Wenn ich etwas für wirklich wichtig halte, dann finde ich dafür auch die passende Zeit, es sei denn, ich wäre versklavt. Aber selbst die VIPs sind das viel weniger als sie vorgeben. Allzu viel Mitleid verdienen sie nicht. Meist haben sie Macht und Geld genug, um durchzusetzen, was für sie Vorrang hat. Noch mal eben eine Minijob-Kraft einzustellen, um die vielen Mails sorgsam vorzusortieren und so weiter, könnten sich zum Beispiel sehr viele ohne Weiteres leisten, wenn sie wollten. Aber sie halten es nicht für nötig, etwas zu ändern. Die kalte Resonanzlosigkeit ist so cool in unserer Gesellschaft, dass man dergleichen weniger wichtig findet als Schminke, weiße Hemden und Krawatten.

Über Hans-Arved Willberg

Dr. phil. Hans-Arved Willberg Trainer - Dozent - Publizist Jhg. 1955, vh., 2 Söhne, wohnt in Etzenrot bei Karlsruhe Inhaber Beratungsfirma Life Consult und Leiter Institut für Seelsorgeausbildung (ISA)
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