Zum Leitmotiv Altjahrsabend – Neujahr – Epiphanias
Das alte Jahr ist alt, weil es vergangen ist, das neue Jahr ist neu, weil es noch nicht da ist. Was gibt es da zu feiern? Dass man gestern 2022 zählte und heute 2023? Dass sich der Uhrzeiger also weiterbewegt hat? Um die Einteilung zu erleichtern, steht dieses Datum hervorgehoben auf dem großen Zifferblatt der Tageszählung, so wie die 12 auf der Kirchturmuhr. Na und?
Nichts wird neu, außer dass immer neu die Zeit vergeht, wenn das Neue nur darin besteht, das Alte fortzusetzen. Das wirklich Neue ist Veränderung. Da bleibt etwas nicht beim Alten. Sehr viel Veränderung des Alten ist aber nichts wirklich Neues. Es ist gewöhnlich. Man ist es gewohnt. Zur Fortsetzung des Alten gehört es selbstverständlich, immer wieder etwas zu verändern. Morgens duscht man und fühlt sich dann vielleicht sogar wie neu geboren. Aber das ist All-Tag – man macht es alle Tage. Alltag ist auch, dass man mal das Shampoo wechselt.
Das fortgesetzte Alte ist flexibel, weil es nicht tot ist. Tod wäre völlige Erstarrung. Aber das fortgesetzte Alte ist nicht lebendig genug, um wirklich Neues zu erzeugen. Es bewahrt Leben in starren Formen. Konservativ kommt vom lateinischen „conservare“. Das konservative Bewahren ist ein Bewahren in Konserven. Eine Konserve ist eine starre Form. Auch zugeschweißte Plastiktüten sind Konserven. Sie mögen einen flexiblen Eindruck machen. Aber sie sind völlig undurchlässig und verbinden sich nicht mit der Natur. Sie können nicht verrotten – sie können nicht sterben.
Der Konservativismus beansprucht Unsterblichkeit. Das Alte soll auf keinen Fall vergehen. Darum kann nichts wirklich Neues werden. Die Bedingung für wirklich Neues ist, dass etwas Altes stirbt. Verrotten ist ein hässliches Wort, wenn man es auf Menschen anwendet, aber von der Bedeutung her nicht verkehrt. Der pflanzliche Müll in der Biotonne ist zum Verrotten da. Daraus kann sehr gute neue Erde werden. Alle Waldböden sind Mega-Chemiefabriken für Verrottungsprozesse. Unzählige Minitiere und Mikroorganismen arbeiten Tag und Nacht unablässig in diesem Verrottunssystem. Das braucht der Boden, damit wieder gute neue Pflanzen keimen und wachsen können.
Verrotten ist etwas ganz anderes als ausrotten. Verrotten ist ein natürlicher Prozess. Ausrotten ist radikales gewaltsames Zerstören. Wenn Menschen ausrotten, wollen sie damit Raum für Neues schaffen. Immer handelt es sich dabei um künstlich Neues, und immer zahlt der Mensch für den Erfolg des Ausrottens einen hohen Preis. Das Leiden durch Ausrotten ist ein viel schlimmeres Leiden als das Leiden durch natürliches Sterben.
Wirklich Neues für uns Menschen ist gutes Neues für uns Menschen. Gut ist Neues für uns nur, wenn es uns menschlicher macht. Das gute Neue kann nur aus dem Inneren kommen und nur dieses gute Neue ist das wirklich Neue. Man kann es nicht verordnen, aber man kann es wollen, man kann dazu ermutigen und man kann es fördern. Man kann es auch fordern. Alles gute Neue muss sogar gefordert werden, wenn es alternativlos ist. Das heißt: Wenn es unbedingt notwendig ist. Man muss es fordern, aber man darf es nicht erzwingen.
Achte auf das in dir selbst, was dich menschlicher macht. Das müssen wir von uns selbst und von unseren Mitmenschen fordern. Wenn wir es nicht fordern, sind wir unbarmherzig, weil wir die Menschlichkeit nicht ernst genug nehmen. Barmherzig zu sein meint dem ursprünglichen Wortsinn nach, sich empathisch einer Not zuzuwenden. Das macht die Barmherzigkeit des Barmherzigen Samariters aus. Menschlichkeit nicht einzufordern ist unbarmherzig, weil dann der Unmenschlichkeit zu viel Raum gegeben wird. Weithin wird aber gerade die Toleranz unmenschlichem Verhalten gegenüber als Barmherzigkeit angesehen. Das ist die Verkehrung des Notwendigen. Das ist Pseudobarmherzigkeit, geschönte Gleichgültigkeit.
Als Voraussetzung dafür, dass meine Forderung nach mehr Menschlichkeit glaubwürdig ist, habe ich diese Forderung zuerst an mich selbst zu stellen. Dann bin ich auch zu mir selbst barmherzig, denn ich achte auf das, was mir und den andern wirklich gut tut. Das zu erkennen und einen Schritt in diese Richtung zu gehen ist immer etwas wirklich Neues. Wirkliche Erneuerung ist Erneuerung des Herzens und Erneuerung des Herzens kommt nur aus dem Herzen selbst. Sie entsteht durch Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist Herzensbewegung. Ich lasse mir etwas zu Herzen gehen. Es berüht mein Herz. Wenn ich darauf eine passende Antwort finde, kommt sie von Herzen. Das macht mich und meine Beziehungen menschlicher.
Die erneuernde Veränderung unserer Herzens durch die Macht der Barmherzigkeit ist das A und O der christlichen Ethik. Das ist ihre alternativlose Forderung. Die christliche Seelsorge hat daraus aber schon sehr früh die unbarmherzige Forderung gemacht, dass wird das Unmenschliche in uns selbst radikal ausrotten. Man hat allerdings einsehen müssen, dass es nicht geht. Daraus hat man die Lehre von der Erbsünde gefolgert: Wenn das Unkraut immer wieder neu aufsprießt, so sehr sich ein Christ auch darum bemüht, es auszurotten, dann liegt es doch wohl daran, dass es letztlich untilgbar in ihm wurzelt. Also brachte man den Christen bei, sehr gewissenhaft auszujäten, was nur immer möglich ist, aber man lehrte sie auch, dass trotzdem immer neues Unkraut entstehen würde. Jedes neu aufkeimende Pflänzchen der Sünde sollte am besten sofort wieder ausgerissen werden. Ihr seid hoffnungslos böse tief in eurem Inneren, aber ihr müsst mit größter Wachsamkeit darauf achtgeben, dass sich dieses Böse nicht entfalten kann, hieß die Devise.
Man lehrte es noch deutlicher: Weil ihr im Innersten hoffnungslos böse seid, müsst ihr eigentlich alle zur Hölle fahren. Aber es gibt Vergebung dieser Schuld. Die steht euch allerdings nur zu, wenn ihr es wert seid. Wert seid ihr es, wenn ihr eure Sünde ernst genug nehmt. Konkret: Ihr nehmt demütig und ernsthaft die Zeichen der Vergebung eurer Erbsünde in Anspruch, Taufe und Abendmahl, und ihr beweist eure Ernsthaftigkeit durch beständiges Unkrautjäten. Das hat man die Beichte genannt. In der katholischen Kirche wurde sie sogar zum Sakrament. Das heißt: Zu etwas Heilsnotwendigem. Heilsnotwendig ist alles, was man unbedingt braucht, um nicht in die Hölle zu kommen.
In der Kunst des Jätens sah man die Chance, Gott wirklich nahe zu kommen und in besonderer Weise durch seinen Heiligen Geist beschenkt zu werden. Man kann beim Jäten in die Tiefe gehen oder oberflächlich bleiben. Ich jäte die Fugen und Ränder meiner Terasse oberflächlich. Das Unkraut kann auch mal ein bisschen wachsen und manche Wurzeln dürfen auch zwischen den Fugen hängen bleiben. So mit den Sünden umzugehen, wäre der Lehre nach fahrlässig, denn man weiß ja nie, was aus den Wurzeln hervorgeht. Das christliche Jäten der Sünde hat man „Heiligung“ genannt. Das Heiligungsmotto derer, die es wirklich ernst nehmen, lautet: Bloß keine Kompromisse, und wirklich vorankommen in der Heiligung kann nur, wer alles daran setzt, das Unkraut der Sünde völlig auszurotten.
Aber es zeigte sich auch schon sehr bald in der Christenheit, dass es nur Wenige gibt, die in der Heiligung so radikal sind, wie es sich eigentlich gehört. Die Radikalen wurden Mönche und Nonnen. Seit der Reformation ist es in weiten Kreisen der Christenheit verpönt, Mönch oder Nonne zu werden. Dort haben sich dafür aber exklusive Zirkel gebildet, in denen man den Weg der radikalen Heiligkeit verfolgt. „Exklusiv“ heißt: ausgeschlosssen. In diesen Fällen ist ausgeschlossen, wer es nicht so ernst nimmt. Aber was ist mit diesen Ausgeschlossenen? Werden sie womöglich auch vom Himmel ausgeschlossen? Die Antworten unter den Christen auf diese Frage fallen unterschiedlich aus: Ja, das kann gut sein, sagen die besonders Radikalen. Sie leben gefährlich, aber Gott ist ja auch sehr barmherzig, sagen die weniger Radikalen.
Tragisch an dieser Sicht von Heiligung ist, dass sie nicht menschlicher macht. Es kommt nichts wirklich Neues dadurch zustande. Der radikale Anspruch des Ausrottens verwechselt die Barmherzigkeit mit dem faulen Kompromiss. Er sagt: Du bist nicht so, wie du sein solltest. Du musst kompromisslos kämpfen gegen das in dir und an dir, was nicht so ist, wie es sein sollte. Die Barmherzigkeit sagt: Du darfst so sein, wie du bist, denn du bist so, wie du bist, der Liebe wert. immer hier und jetzt. Du bist angenommen, wie du bist, und darum sollst du dich auch selbst annehmen. Aber du musst nicht so bleiben, wie du bist. Du kannst dich verändern. Du kannst menschlicher werden.
Das, was man zu Recht der christlichen Tradition gemäß als Sünde bezeichnen kann, sind vor allem Gewohnheiten. Dir ist es zum Beispiel zur Gewohnheit geworden, dich für minderwertig zu halten. Es muss nur einen kleinen Anlass geben, der das zu bestätigen scheint, und schon fällst du wieder in das depressive Loch der Verzweiflung. Im Loch sieht die ganze Welt sehr eng und dunkel aus. Aber du tust dir selbst, den andern und dem ganzen Leben Unrecht, wenn du das denkst. Das hindert dich daran, menschlicher zu werden.
Ist das ein böses Laster, das du ausrotten solltest? Sollst du dich deswegen schlecht finden und dir selbst den Krieg erklären? Das wird deinem Selbstwertgefühl nicht helfen und es wird dich nicht menschlicher machen. Du kannst aber auch barmherzig mit dir selbst sein: Ja, diese Gewohnheit ist wirklich eine traurige Belastung. Ich will mich nicht mehr von ihr beherrschen lassen. Ich will besser hören, was mein Herz sagt. Ich will mich darin üben, liebevoll über mich selbst, die andern und das Leben zu denken. Ich will mein Herz bewegen lassen von der Barmherzigkeit. Dann wird mir das Herz aufgehen für das, was wirklich gut tut. So verändere ich mich, so werde ich wirklich neu.
Und was wird aus der Gewohnheit? Die ist lästig und traurig, aber es ist kein Drama, wenn sie mich immer wieder einmal in den Bann zieht; Gewohnheiten haben das so an sich, sonst wären es keine. Aber das wird mich nicht daran hindern, sie mir doch allmählich abzugewöhnen. Warum sollte ich sie ausrotten? Ich bin angenommen, wie ich bin, mich bedroht kein Höllenschlund. Ich weiß einen viel eleganteren Weg, den der Barmherzigkeit: Verrotten lasse ich sie. Sie darf verwelken, verdorren und sterben. Sie ist wie ein starrer Panzer, der mich gefangen nimmt, der darf spröde werden und brechen und schließlich abfallen von mir wie die Schale von der guten Frucht.
Es gibt kein Sterben ohne Leiden. Gewohnheiten, auch schlechte, geben Sicherheit. Sehr viel am Konservativismus besteht aus schlechten Gewohnheiten. So etwas aufzugeben kostet Mut und Mut brauche ich, wenn mir Gefahr droht. Wer mit schlechten Gewohnheiten bricht, könnte ausgeschlossen werden von denen, die sie pflegen. Besonders dramatisch kann das werden, wenn es sich um religiöse Gewohnheiten handelt, die von denen, die sie kultivieren, heilig gesprochen werden. Jesus hat sehr mutig solchen Gewohnheiten den Gehorsam aufgekündigt und wurde dafür gekreuzigt. So nahm das wirklich Neue seinen Anfang. In seiner Spur lernen wir, menschlicher zu werden.