Very Isolating People

Kraft Digitalisierung wirft die Ursprungsbedeutung des Akronyms VIP den Schatten einer Nebenbedeutung, die derzeit so in den Vordergrund zu treten scheint, dass sie sich von der Hauptbedeutung nicht mehr unterscheiden lässt: Die Very Important Persons sind zugleich Very Isolating Persons. Sie scheinen es als ihr Markenzeichen zu betrachten, keine Zeit für Antworten zu haben. Man erreicht sie nicht. Am einfachsten könnte es für sie sein, sich durch E-Mails erreichen zu lassen, weil sich das asynchron bearbeiten lässt, das heißt: man kann es planen. Eine durchaus hilfreiche Erwiderung mittels E-Mail muss mit allem Drum-und-Dran: Öffnen, Überfliegen, Schreiben, Senden, nicht länger als eine Minute beanspruchen. „Hast Du mal eine Minute Zeit für mich?“ „Nein.“ Wenn man wirklich eine sehr wichtige Person ist und auf diese Rückmeldung mit Augenverdrehen reagieren würde (woher soll ich denn die zwei Stunden täglich für die 120 E-Mails täglich nehmen?), dann wäre es eigentlich (vielleicht schon längst) dringend geboten, sich bewusst zu machen, mit welchem Preis man sein Verhalten tatsächlich bezahlt: Man geht demütigend und entwürdigend mit vielen Menschen um, die wirklich Resonanz verdient hätten, wenigstens ein Minimum an Höflichkeit. Sicher arbeitet man gerade mit Hochdruck an einem Very Important Project und vielleicht auch noch sogar an einem mit hoher ethischer Brisanz. Vor lauter Tunnelblick merkt man nicht, dass man dabei fast schon über Leichen geht. Oder ist es gar nicht mal der Tunnelblick, sondern man steckt den Kopf in den Sand? Weil man die Unfähigkeit, mit der digitalen Überflutung anständig umzugehen, als sicheres Zeichen interpretiert, wirklich very, very important zu sein, setzt man eine Norm der Unnahbarkeit, die an absolutistische Herrscher erinnert. Audienz gewährt zu bekommen, sei es auch nur für ein Minütchen, wäre ein besonders huldvolles Zeichen herablassender Gnade. Aber wie wichtig nehmt ihr ach so wichtigen Riesen eigentlich die Bedürfnisse derer, die etwas von euch wollen, weil sie gute Gründe dafür haben? Ja klar, man könnte es natürlich auch mit andern Medien probieren, an euch heranzukommen: Anrufen etwa. Doch damit geht ihr nicht anders um, stört es eure Kreise doch erst recht.

Ungefähr 30 % der Menschen in Deutschland und seinesgleichen sind sozial isoliert. Soziale Isolation ist das Resultat von Resonanzlosigkeit. Der rituelle Tanz um die goldenen Kälber unserer Gesellschaft vollzieht ich im Rhythmus des Mantras „Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit…“ O doch, wir haben Zeit. Es fragt sich nur, wofür wir sie verwenden. Es ist eine Frage der Prioritäten. Wenn ich etwas für wirklich wichtig halte, dann finde ich dafür auch die passende Zeit, es sei denn, ich wäre versklavt. Aber selbst die VIPs sind das viel weniger als sie vorgeben. Allzu viel Mitleid verdienen sie nicht. Meist haben sie Macht und Geld genug, um durchzusetzen, was für sie Vorrang hat. Noch mal eben eine Minijob-Kraft einzustellen, um die vielen Mails sorgsam vorzusortieren und so weiter, könnten sich zum Beispiel sehr viele ohne Weiteres leisten, wenn sie wollten. Aber sie halten es nicht für nötig, etwas zu ändern. Die kalte Resonanzlosigkeit ist so cool in unserer Gesellschaft, dass man dergleichen weniger wichtig findet als Schminke, weiße Hemden und Krawatten.

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Die Verachtung der Alten in der Wissenschaft

Die vernünftige Ausrichtung auf die Zukunft können wir nur gewinnen, wenn wir aus der Vergangenheit lernen. Das beinhaltet, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, aber es beinhalt genauso auch, die Weisheit der Vergangenheit kennenzulernen. Weisheit ist überdauerndes sinnvolles Wissen, das Orientierung gibt.

Als es gestern in Terra X, der populärwissenschaftlichen Sendung des ZDF, auf die ich mich eigentlich jeden Sonntag abend immer schon freue, um das Thema „Gehirn“ ging, führte die sehr betont jugendlich und modern auftretende Moderatorin, selbst Wissenschaftlerin, Gelehrte vergangener Zeiten vor: Platon, Aristoteles, Descartes und La Mettrie, indem sie diese als Zeitreisende live erscheinen ließ. Sie beamte sich zurück zu ihnen und redete mit ihnen. Es sollte lustig wirken, aber die implizite Botschaft lautete: Ihr wusstet ein bisschen was, aber es war ziemlich armselig; ich weiß sehr viel mehr als ihr. Allesamt wurden sie als versponnene, mehr oder weniger senile Opas dargestellt, mit sehr begrenztem Horizont, als unbeholfen tatterige Clownfiguren, die nicht den Eindruck machten, in der Welt zurechtzukommen, im krassen Gegensatz zur Selbstdarstellung der Moderatorin.

Wissenschaftler lernen viel aus den Fehlern der Vergangenheit, nämlich immer dort, wo sich alte Theorien nicht bestätigt haben. Aber sie tun sich schwer damit, aus dem Fehler zu lernen, das Wissen vergangener Zeiten seiner Begrenzung wegen zu verachten, nur weil es den gegenwärtig Forschenden in mancher Hinsicht geschenkt ist, es zu erweitern und alte Fehler zu korrigieren. Mit der Verachtung dieses Wissens versäumen sie es zugleich, aus den Weisheitsbrunnen der Vergangenheit zu schöpfen. Sie meinen, es nicht nötig zu haben, weil sie sich einbilden, ach so viel gelehrter zu sein als die Alten.

Analog finden wir dieses Phänomen auch in der Kunst, aber dort ist leichter ersichtlich, mit welchem Preis die Ignoranz der Alten bezahlt wird, weil ihr dann nicht nur die sachliche Tiefe und Kraft fehlt, sondern auch die emotionale. Die Kunstfertigkeit mag so hoch sein wie bei modernen Wissenschaftlerinnen, die Künstler mögen ihre Instrumente bestens beherrschen, aber was sie damit hervorbringen, bleibt an der Oberfläche und bringt je länger je mehr nichts wirklich bewegend Neues mehr. Es wird langweilig und die Langeweile wird durch die scheinbare Großartigkeit des Performancetheaters kompensiert.

Die Kulturgeschichte braucht von Zeit zu Zeit jugendliche Erneuerungen, die dem Konservatismus die Stirn bieten, indem sich ihre Protagonisten gar nichts mehr von den Gestrigen sagen lassen. Das sind notwendige dialektische Reaktionen auf die Arroganz der Alten. Aber die Dynamik jedes Umbruchs dieser Art dünnt sich aus und gerinnt zu starren idologischen Positionen, wenn ihm nicht bald eine ernsthafte Rückbesinnung auf das Wissen und Können der Alten folgt, das dem Weitergehen nach dem Umbruch Orientierung gibt.

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Das wirklich Neue

Zum Leitmotiv Altjahrsabend – Neujahr – Epiphanias

Das alte Jahr ist alt, weil es vergangen ist, das neue Jahr ist neu, weil es noch nicht da ist. Was gibt es da zu feiern? Dass man gestern 2022 zählte und heute 2023? Dass sich der Uhrzeiger also weiterbewegt hat? Um die Einteilung zu erleichtern, steht dieses Datum hervorgehoben auf dem großen Zifferblatt der Tageszählung, so wie die 12 auf der Kirchturmuhr. Na und?

Nichts wird neu, außer dass immer neu die Zeit vergeht, wenn das Neue nur darin besteht, das Alte fortzusetzen. Das wirklich Neue ist Veränderung. Da bleibt etwas nicht beim Alten. Sehr viel Veränderung des Alten ist aber nichts wirklich Neues. Es ist gewöhnlich. Man ist es gewohnt. Zur Fortsetzung des Alten gehört es selbstverständlich, immer wieder etwas zu verändern. Morgens duscht man und fühlt sich dann vielleicht sogar wie neu geboren. Aber das ist All-Tag – man macht es alle Tage. Alltag ist auch, dass man mal das Shampoo wechselt.

Das fortgesetzte Alte ist flexibel, weil es nicht tot ist. Tod wäre völlige Erstarrung. Aber das fortgesetzte Alte ist nicht lebendig genug, um wirklich Neues zu erzeugen. Es bewahrt Leben in starren Formen. Konservativ kommt vom lateinischen „conservare“. Das konservative Bewahren ist ein Bewahren in Konserven. Eine Konserve ist eine starre Form. Auch zugeschweißte Plastiktüten sind Konserven. Sie mögen einen flexiblen Eindruck machen. Aber sie sind völlig undurchlässig und verbinden sich nicht mit der Natur. Sie können nicht verrotten – sie können nicht sterben.

Der Konservativismus beansprucht Unsterblichkeit. Das Alte soll auf keinen Fall vergehen. Darum kann nichts wirklich Neues werden. Die Bedingung für wirklich Neues ist, dass etwas Altes stirbt. Verrotten ist ein hässliches Wort, wenn man es auf Menschen anwendet, aber von der Bedeutung her nicht verkehrt. Der pflanzliche Müll in der Biotonne ist zum Verrotten da. Daraus kann sehr gute neue Erde werden. Alle Waldböden sind Mega-Chemiefabriken für Verrottungsprozesse. Unzählige Minitiere und Mikroorganismen arbeiten Tag und Nacht unablässig in diesem Verrottunssystem. Das braucht der Boden, damit wieder gute neue Pflanzen keimen und wachsen können.

Verrotten ist etwas ganz anderes als ausrotten. Verrotten ist ein natürlicher Prozess. Ausrotten ist radikales gewaltsames Zerstören. Wenn Menschen ausrotten, wollen sie damit Raum für Neues schaffen. Immer handelt es sich dabei um künstlich Neues, und immer zahlt der Mensch für den Erfolg des Ausrottens einen hohen Preis. Das Leiden durch Ausrotten ist ein viel schlimmeres Leiden als das Leiden durch natürliches Sterben.

Wirklich Neues für uns Menschen ist gutes Neues für uns Menschen. Gut ist Neues für uns nur, wenn es uns menschlicher macht. Das gute Neue kann nur aus dem Inneren kommen und nur dieses gute Neue ist das wirklich Neue. Man kann es nicht verordnen, aber man kann es wollen, man kann dazu ermutigen und man kann es fördern. Man kann es auch fordern. Alles gute Neue muss sogar gefordert werden, wenn es alternativlos ist. Das heißt: Wenn es unbedingt notwendig ist. Man muss es fordern, aber man darf es nicht erzwingen.

Achte auf das in dir selbst, was dich menschlicher macht. Das müssen wir von uns selbst und von unseren Mitmenschen fordern. Wenn wir es nicht fordern, sind wir unbarmherzig, weil wir die Menschlichkeit nicht ernst genug nehmen. Barmherzig zu sein meint dem ursprünglichen Wortsinn nach, sich empathisch einer Not zuzuwenden. Das macht die Barmherzigkeit des Barmherzigen Samariters aus. Menschlichkeit nicht einzufordern ist unbarmherzig, weil dann der Unmenschlichkeit zu viel Raum gegeben wird. Weithin wird aber gerade die Toleranz unmenschlichem Verhalten gegenüber als Barmherzigkeit angesehen. Das ist die Verkehrung des Notwendigen. Das ist Pseudobarmherzigkeit, geschönte Gleichgültigkeit.

Als Voraussetzung dafür, dass meine Forderung nach mehr Menschlichkeit glaubwürdig ist, habe ich diese Forderung zuerst an mich selbst zu stellen. Dann bin ich auch zu mir selbst barmherzig, denn ich achte auf das, was mir und den andern wirklich gut tut. Das zu erkennen und einen Schritt in diese Richtung zu gehen ist immer etwas wirklich Neues. Wirkliche Erneuerung ist Erneuerung des Herzens und Erneuerung des Herzens kommt nur aus dem Herzen selbst. Sie entsteht durch Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist Herzensbewegung. Ich lasse mir etwas zu Herzen gehen. Es berüht mein Herz. Wenn ich darauf eine passende Antwort finde, kommt sie von Herzen. Das macht mich und meine Beziehungen menschlicher.

Die erneuernde Veränderung unserer Herzens durch die Macht der Barmherzigkeit ist das A und O der christlichen Ethik. Das ist ihre alternativlose Forderung. Die christliche Seelsorge hat daraus aber schon sehr früh die unbarmherzige Forderung gemacht, dass wird das Unmenschliche in uns selbst radikal ausrotten. Man hat allerdings einsehen müssen, dass es nicht geht. Daraus hat man die Lehre von der Erbsünde gefolgert: Wenn das Unkraut immer wieder neu aufsprießt, so sehr sich ein Christ auch darum bemüht, es auszurotten, dann liegt es doch wohl daran, dass es letztlich untilgbar in ihm wurzelt. Also brachte man den Christen bei, sehr gewissenhaft auszujäten, was nur immer möglich ist, aber man lehrte sie auch, dass trotzdem immer neues Unkraut entstehen würde. Jedes neu aufkeimende Pflänzchen der Sünde sollte am besten sofort wieder ausgerissen werden. Ihr seid hoffnungslos böse tief in eurem Inneren, aber ihr müsst mit größter Wachsamkeit darauf achtgeben, dass sich dieses Böse nicht entfalten kann, hieß die Devise.

Man lehrte es noch deutlicher: Weil ihr im Innersten hoffnungslos böse seid, müsst ihr eigentlich alle zur Hölle fahren. Aber es gibt Vergebung dieser Schuld. Die steht euch allerdings nur zu, wenn ihr es wert seid. Wert seid ihr es, wenn ihr eure Sünde ernst genug nehmt. Konkret: Ihr nehmt demütig und ernsthaft die Zeichen der Vergebung eurer Erbsünde in Anspruch, Taufe und Abendmahl, und ihr beweist eure Ernsthaftigkeit durch beständiges Unkrautjäten. Das hat man die Beichte genannt. In der katholischen Kirche wurde sie sogar zum Sakrament. Das heißt: Zu etwas Heilsnotwendigem. Heilsnotwendig ist alles, was man unbedingt braucht, um nicht in die Hölle zu kommen.

In der Kunst des Jätens sah man die Chance, Gott wirklich nahe zu kommen und in besonderer Weise durch seinen Heiligen Geist beschenkt zu werden. Man kann beim Jäten in die Tiefe gehen oder oberflächlich bleiben. Ich jäte die Fugen und Ränder meiner Terasse oberflächlich. Das Unkraut kann auch mal ein bisschen wachsen und manche Wurzeln dürfen auch zwischen den Fugen hängen bleiben. So mit den Sünden umzugehen, wäre der Lehre nach fahrlässig, denn man weiß ja nie, was aus den Wurzeln hervorgeht. Das christliche Jäten der Sünde hat man „Heiligung“ genannt. Das Heiligungsmotto derer, die es wirklich ernst nehmen, lautet: Bloß keine Kompromisse, und wirklich vorankommen in der Heiligung kann nur, wer alles daran setzt, das Unkraut der Sünde völlig auszurotten.

Aber es zeigte sich auch schon sehr bald in der Christenheit, dass es nur Wenige gibt, die in der Heiligung so radikal sind, wie es sich eigentlich gehört. Die Radikalen wurden Mönche und Nonnen. Seit der Reformation ist es in weiten Kreisen der Christenheit verpönt, Mönch oder Nonne zu werden. Dort haben sich dafür aber exklusive Zirkel gebildet, in denen man den Weg der radikalen Heiligkeit verfolgt. „Exklusiv“ heißt: ausgeschlosssen. In diesen Fällen ist ausgeschlossen, wer es nicht so ernst nimmt. Aber was ist mit diesen Ausgeschlossenen? Werden sie womöglich auch vom Himmel ausgeschlossen? Die Antworten unter den Christen auf diese Frage fallen unterschiedlich aus: Ja, das kann gut sein, sagen die besonders Radikalen. Sie leben gefährlich, aber Gott ist ja auch sehr barmherzig, sagen die weniger Radikalen.

Tragisch an dieser Sicht von Heiligung ist, dass sie nicht menschlicher macht. Es kommt nichts wirklich Neues dadurch zustande. Der radikale Anspruch des Ausrottens verwechselt die Barmherzigkeit mit dem faulen Kompromiss. Er sagt: Du bist nicht so, wie du sein solltest. Du musst kompromisslos kämpfen gegen das in dir und an dir, was nicht so ist, wie es sein sollte. Die Barmherzigkeit sagt: Du darfst so sein, wie du bist, denn du bist so, wie du bist, der Liebe wert. immer hier und jetzt. Du bist angenommen, wie du bist, und darum sollst du dich auch selbst annehmen. Aber du musst nicht so bleiben, wie du bist. Du kannst dich verändern. Du kannst menschlicher werden.

Das, was man zu Recht der christlichen Tradition gemäß als Sünde bezeichnen kann, sind vor allem Gewohnheiten. Dir ist es zum Beispiel zur Gewohnheit geworden, dich für minderwertig zu halten. Es muss nur einen kleinen Anlass geben, der das zu bestätigen scheint, und schon fällst du wieder in das depressive Loch der Verzweiflung. Im Loch sieht die ganze Welt sehr eng und dunkel aus. Aber du tust dir selbst, den andern und dem ganzen Leben Unrecht, wenn du das denkst. Das hindert dich daran, menschlicher zu werden.

Ist das ein böses Laster, das du ausrotten solltest? Sollst du dich deswegen schlecht finden und dir selbst den Krieg erklären? Das wird deinem Selbstwertgefühl nicht helfen und es wird dich nicht menschlicher machen. Du kannst aber auch barmherzig mit dir selbst sein: Ja, diese Gewohnheit ist wirklich eine traurige Belastung. Ich will mich nicht mehr von ihr beherrschen lassen. Ich will besser hören, was mein Herz sagt. Ich will mich darin üben, liebevoll über mich selbst, die andern und das Leben zu denken. Ich will mein Herz bewegen lassen von der Barmherzigkeit. Dann wird mir das Herz aufgehen für das, was wirklich gut tut. So verändere ich mich, so werde ich wirklich neu.

Und was wird aus der Gewohnheit? Die ist lästig und traurig, aber es ist kein Drama, wenn sie mich immer wieder einmal in den Bann zieht; Gewohnheiten haben das so an sich, sonst wären es keine. Aber das wird mich nicht daran hindern, sie mir doch allmählich abzugewöhnen. Warum sollte ich sie ausrotten? Ich bin angenommen, wie ich bin, mich bedroht kein Höllenschlund. Ich weiß einen viel eleganteren Weg, den der Barmherzigkeit: Verrotten lasse ich sie. Sie darf verwelken, verdorren und sterben. Sie ist wie ein starrer Panzer, der mich gefangen nimmt, der darf spröde werden und brechen und schließlich abfallen von mir wie die Schale von der guten Frucht.

Es gibt kein Sterben ohne Leiden. Gewohnheiten, auch schlechte, geben Sicherheit. Sehr viel am Konservativismus besteht aus schlechten Gewohnheiten. So etwas aufzugeben kostet Mut und Mut brauche ich, wenn mir Gefahr droht. Wer mit schlechten Gewohnheiten bricht, könnte ausgeschlossen werden von denen, die sie pflegen. Besonders dramatisch kann das werden, wenn es sich um religiöse Gewohnheiten handelt, die von denen, die sie kultivieren, heilig gesprochen werden. Jesus hat sehr mutig solchen Gewohnheiten den Gehorsam aufgekündigt und wurde dafür gekreuzigt. So nahm das wirklich Neue seinen Anfang. In seiner Spur lernen wir, menschlicher zu werden.

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Vereinsamung

Einführung in die Grundproblematik

Vortrag beim CDU-Podium zum Thema in Waldbronn, 21.06.2022

Das Vereinsamungsproblem in Deutschland gleicht einem Eisberg. Die Spitze des Eisbergs sind ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung, die sich ihres Problems der übermäßigen Vereinsamung selbst bewusst genug sind, um bei Befragungen dementsprechend zu antworten. Die Substanz der Spitze ist zu einem großen Teil toxisch. Es handelt sich um eine sozusagen giftige Einsamkeit, die krank macht. Man nennt sie emotionale Isolation. Das heißt: Die Betroffenen kommen emotional nicht mit ihrer Einsamkeit zurecht.

Mehr unter der Oberfläche, aber noch klar erkennbar genug, um Messungen vornehmen zu können, liegt der Teil des Eisbergs, wo die Einsamkeit nicht unmittelbar krank machen muss, aber die Betroffenen dennoch sehr kränken kann. Deren Einsamkeit nennt man die soziale Isolation. Das heißt: Die Betroffenen sind in schmerzlicher und langfristig ungesunder Weise einsam, kommen aber zum Teil damit emotional zurecht, obwohl es hart für sie ist. Hier heißt „messbar“ ebenfalls, dass sich das Problem klar genug durch Fragen ermitteln lässt und somit diese Personen sich ihres Zustands wenigstens einigermaßen bewusst sind.

Von sozialer Isolation betroffen sind mindestens doppelt so viele Personen wie von emotionaler Isolation, allerdings ist die Zahl der emotional Isolierten weitgehend eine Teilmenge der sozialen Isolation, wenn es auch viele emotional isolierte Menschen gibt, die objektiv gesehen nicht sozial isoliert sind. Ich kann mir auch einbilden, dass mich niemand mag und sich niemand um mich kümmert, und das ist durchaus bei vielen Betroffenen der Fall. Sie sind eigentlich in dieser Hinsicht als psychisch gestört oder krank einzuordnen, was natürlich auch die entsprechenden Folgen für sie nach sich zieht. Eine wesentliche Folge ist, dass sie sich aufgrund ihres subjektiven Urteils über die andern selbst isolieren und somit dann die objektive soziale Isolation aus der emotionalen folgt.

Unter diesen beiden Schichten wird es schwierig mit exakten statistischen Daten, was aber nicht bedeutet, dass man hierzu keine wissenschaftlichen Aussagen mehr machen kann. Auch zu diesen tieferen Untergründen der Vereinsamung liegen sehr viele Daten vor, aber was genau sie über die Vereinsamung aussagen, wird erst aus den Zusammenhängen ersichtlich, und die Deutung von Zusammenhängen geht weit über die statistische Forschung hinaus. So viel lässt sich darüber aus dem Befund aber unzweifelhaft sagen: Unsere deutsche Gesellschaft leidet unter einem tatsächlich wachsenden Qualitätsverlust der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Die Auswirkungen dieser schleichenden sozialen Vereisung machen die Grundmasse des Eisbergs aus. Hierzu gehören erstens die mutmaßlich sehr vielen Menschen, die eigentlich wissen, dass sie vereinsamt sind, es aber nicht zugeben, weil sie sich schämen. Zweitens gehören hierzu mutmaßlich noch mehr Menschen, die ihr Vereinsamungsproblem selbst nicht erkennen oder erfolgreich verleugnen. Und drittens gehört hierzu der wiederum statistisch teilweise recht gut messbare Anteil der Menschen, die psychische und psychosomatische Störungen und Krankheiten entwickeln, in denen die Vereinsamung eine entscheidende Rolle spielt, was aber sehr oft nicht diagnostiziert wird, weil sie traditionell nicht als wesentliches Störungssymptom wahr- und ernstgenommen wird. Fast 30 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 80 litten im Jahr 2020 unter einer ernstzunehmenden psychischen Störung oder Erkrankung, was auch schon den Jahren vor der Pandemie entspricht. Die drei Spitzenreiter in der Störungsskala sind übermäßige Angstprobleme, Depression und Sucht. Alle drei haben, was wohl jedem ohne Weiteres einleuchtet, überaus viel mit Vereinsamung zu tun, als Ursache, aber auch als Wirkung.

All das gab es schon vor der Pandemie, aber es hat sich durch die Pandemie signifikant verstärkt. Es gibt auch erfreuliche Gegentrends als Reaktion auf die Pandemie. Die sind aber bisher nicht wirksam genug, um den Trend zur epidemischen Ausweitung des Vereinsamungsproblems aufzuhalten.

Dankenswerterweise wurde wissenschaftlich in den letzten Jahrzehnten ziemlich viel über Einsamkeit geforscht und die Bundesregierung wie auch die Europäische Kommission und Regierungen anderere Nationen haben das Problem als solches erkannt, thematisiert und teilweise erfreuliche Maßnahmen eingeleitet. Aber erkannt heißt nicht gebannt. Wir befinden uns noch in der Anfangsphase der Verwirklichung dieser Maßnahmen, das heißt: Die Stunde der Kommunen und der Subsidiarität ist gekommen. Subsidium heißt „Hilfe“ und gemeint ist: Dass möglichst jeweils vor Ort von denen geholfen wird, die den Willen und das Zeug dazu haben, zugeschnitten auf die örtlichen Bedarfe und Möglichkeiten, statt zentralistische Lösungen zu erwarten und ihr Ausbleiben zu bejammern. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Vereinsamung ist, dem Klischee widersprechend, gar nicht so sehr das Problem alter Menschen. Viele von ihnen kommen ganz ordentlich mit der Einsamkeit zurecht oder sind gut sozial vernetzt. Aber es ist, einfach schon der demographischen Entwicklung wegen, in alarmierender Weise auch ein wachsendes Problem unter den Senioren. Dabei kann so viel geschehen, um das zu ändern. Wir müssen die Generationen wieder zueinander bringen! Zum Beispiel unterstützt die Bundesregierung den Bau von Mehrgenerationenhäusern. Ein paar hundert gibt es davon bislang in Deutschland und ein paar weitere hundert sind geplant. Das ist wunderbar, aber es ist vorerst auch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, oder sagen wir besser: Ein Tropfen heißes Wasser auf den Eisberg.

Unter Vereinsamung leiden Menschen aller Generationen, deutlich vermehrt aber im Gesamttrend und durch die Pandemie erst recht jüngere Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Allerdings: Das Vereinsamungsproblem der heutigen Kinder und Jugendlichen ist komplex und paradox, denn es ist zu einem sehr großen Teil durch den inkompetenten Gebrauch der Bildschirmmedien bedingt. Paradox ist das, weil diese Medien zum allergrößten Teil Kontaktmedien sind. Darin liegt ihre ganz große Chance und ganz oft auch ihr ganz großer Segen. Aber ganz nah beim ganz großen Segen ist, erlauben Sie mir, das in dieser Schärfe zu sagen, der ganz große Fluch.

Ein Medium ist zu Deutsch ein Mittler. Die sozialen Medien als Mittler können eine Tür zwischen den Menschen sein oder eine gläserne Wand. Alles hängt davon ab, ob sie echten Beziehungen dienen oder echte Beziehungen ersetzen. Es gibt einen sehr starken Trend unter jungen Menschen, wenn auch durchaus nicht nur unter ihnen, sich auf möglichst bequeme Beziehungen zu beschränken. Die rasant wachsende Industrialisierung der Informationstechnologie übt einen enormen globalen Einfluss auf die Anwender der modernen digitalen Medien aus, um sie zu abhängigen Konsumenten zu machen. Und sehr viele sind es bereits. Das Suchtmittel ist die bequeme, oberflächliche Beziehung, die vorgibt, das tiefste menschliche Bedürfnis überhaupt, das Bindungsbedürfnis, wunderbar zu erfüllen, und den Durst danach doch nur mit Salzwasser löscht.

Immer mehr herrscht eine kommunikative Oberflächlichkeit vor, mit der sich lauter vereinzelte Menschen von virtueller Blase zu virtueller Blase virtuelle Beziehungsblasen vermitteln, um sich den Schein von Gemeinschaft zu geben. „Sprechblasen“ wäre schon zu viel gesagt, denn selbst das Sprechen meidet man, weil Worte zu bilden ja auch schon etwas unbequem ist. Jene Industrie ist im Begriff, die künstliche Community zu perfektionieren, in der alle Beziehung nur noch virtuell und als Lohn der Abhängigkeit algorithimisch völlig personalisiert auf das jeweilige Individuum in dessen Blase erlebt wird. Dort soll es seine vollkommen lebensecht erscheinende individuelle Traumwelt realisiert finden, so als wäre das die reine Natur, mit dem leibhaftigen virtuellen Traumpartner, immer gerade so, wie es dir gerade passt.

Es ist ein Alptraum, aber es geschieht bereits in verheerendem Ausmaß. Daher kommt es, dass unzählige Menschen nicht nur den allerdümmsten und dreistesten Lügen, von denen sie ihn ihren virtuellen Blasen umspült werden, Glauben schenken, nein, sondern dass es sie gar nicht interessiert, ob etwas Lüge oder Wahrheit ist. Wahrheit ist altmodisch geworden – unterhalten will man sein.

Vor dieser leider düsteren Kulisse hebt sich sehr klar ab, was auf die Bühne unseres notwendigen gemeinsamen Vorgehens gegen das Vereinsamungsproblem gehört: Kein künstliches Theater, keine Show, die mehr Schein verbreitet als Hilfe. Und vor allem: Die Virtualität der neuen Kommunikationsmedien – „Virtualität“ heißt dem Duden nach übrigens „vorgespiegelte räumliche Scheinwelt“ – sie darf nicht über uns herrschen, sondern sie muss uns als verantwortlich und kompetent verwendetes Mittel zum Zweck direkter Begegnungen und Beziehungen von wirklichen, echten, ganzen Menschen mit wirklichen, echten, ganzen Menschen dienen. Für die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts kommt es entscheidend darauf an, dass wirkliche, echte, ganze Menschen wirklichen, echten, ganzen Menschen begegnen, nicht nur punktuell hin und wieder einmal, sondern beständig und verlässlich, so dass viele tragfähige Beziehungen daraus werden, die es erlauben, sich nicht nur so weit zu mögen, wie der Spaß reicht, sondern sich auch leiden zu mögen. Das muss die Maxime aller Maßnahmen gegen Vereinsamung sein, denn nur das überwindet sie.

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Ideologie statt Logik

Zur Aussortierung von vier Weltklassespielern durch den Bundestrainer

Das praktische Problem von Ideologien besteht darin, dass logische Argumente durch ideologische ersetzt werden. Das theoretische Problem von Ideologien besteht darin, dass sie ein logisch unbegründetes Dogma als verbindliche Wahrheit ausgeben. Die neue Ideologie von Jogi Löw & Co. heißt „radikaler Neubeginn mit jungen Spielern“: Das ist ein logisch unbegründetes Dogma, denn aus dem Scheitern in der Vorrunde der Weltmeisterschaft ergibt sich dieses Postulat nicht. Das ganze Team hat damals sein Ziel nicht erreicht. Nicht die wundersame Wandlung einzelner Spieler von Weltklasse zu Mittelmaß hatte dazu geführt, die sich tragischerweise ausgerechnet in jenen Wochen ereignet und von dort an wie ein verborgener Virus ihre Leistung beeinträchtigt hätte. Boateng, Müller, Hummels und Khedira sind so gut wie zuvor; gelegentliche Formschwankungen, zum Beispiel als Folge von Verletzungspausen, sind normal, man macht nicht immer sein bestes Spiel und manchmal reihen sich auch ein paar Spiele dieser Art aneinander. Die Niederlagen bei der Weltmeisterschaft entstanden aus einer Mischung mehrerer Faktoren. Natürlich hatte man das zu analysieren und natürlich haben die vier Aussortierten ihren Teil der Verantwortung für das Scheitern zu schultern. Ebenso natürlich und vernünftig ist es, aus den Fehlern zu lernen und strategische Veränderungen vorzunehmen, selbstverständlich auch mit anderen Spielern. Logischerweise ist im Leistungs-Mannschaftssport die aktuelle Leistung Hauptkriterium für Aufstellungen, gefolgt von strategischen Überlegungen. Die vier haben kein Sonderrecht darauf, im Kader zu sein. So weit, so logisch.

Aber nun sieht sich der Nationalmannschaftstrainer dazu veranlasst, unangemeldet beim FC Bayern aufzukreuzen und aus heiterem Himmel heraus wie zuvor schon Khedira nun auch Hummels, Boateng und Müller zu eröffnen, dass sie fortan nicht mehr zur Nationalmannschaft gehören. Das ist nicht nur ein menschlich fragwürdiges Verhalten, sondern da hört auch die Logik auf, denn es lässt sich weder mit der Leistung noch mit der Strategie noch sonst wie rational begründen, wie etwa mit der „fehlenden Chemie“ im Team oder einem Benehmen, das dem Teamspirit schadet. Im Gegenteil: Die drei waren nicht nur Leistungsträger, sondern auch vorbildliche Verantwortungsträger in der Mannschaft. Auch das Argument „Alter“ greift nicht, denn Müller, Boateng und Hummels wie auch Khedira sind nicht alt, wohl aber überaus erfahren. Sich des ideologischen Dogmas wegen selbst der Option zu berauben, für wichtige Spiele diese Koryphäen des Profifussballs an Bord zu haben, ist völlig unnötig und schlicht unprofessionell.

Vielleicht scheiden sich durch diese Scheidung jetzt die Geister in der Fußball-Fachwelt; es wäre wünschenswert. Die diesen „konsequenten“ Schritt des Bundestrainers jetzt beklatschen, wird man im Großen und Ganzen wohl der Gruppe von Experten zuordnen können, die schon seit jeher mit erstaunlich selbstgewissem Auftritt erstaunlich negative Urteile im Schwarzweißmodus über Fußballprofis zu fällen pflegen, nur weil sie gerade einmal nicht die gewünschte Höchstleistung zeigten, Fehler machten, den Ball nicht im Tor unterbrachten, müde waren und manchmal auch nicht so ganz hundertprozentig motiviert. Es ist zu fürchten, dass Löw & Co. es dieser Sorte von Experten mit der medienwirksamen Entscheidung, sich der bewährten Weltklassespieler zu entledigen, recht machen wollen.

Hummels, Boateng und Müller waren nicht nur Leistungs- und Verantwortungsträger der Nationalmannschaft, sondern auch Sympathieträger. Entscheidung und Verhalten des Bundestrainers mit der Rückendeckung des DFB-Vorstands sind darum nicht nur ein Affront gegen die Spieler selbst, die wahrlich einen anderen Abgang verdienen würden, sondern auch gegen die Fans des Nationalteams, zu denen auch ich mich zähle. Ich mache gerade eine interessante neue Erfahrung: Zum ersten mal seit über 50 Jahren habe ich keine Lust mehr, die nächsten Spiele dieser ideologisch bereinigten Mannschaft zu sehen. Mit diesem Team identifiziere ich mich nicht mehr.

Ausgehend vom Status quo wird es allmählich Zeit, Löw selber auszuwechseln. Eigentlich ist dieses unprofessionelle Verhalten schon Grund genug dazu. Man wird sehen, wie Löw & Co. damit umgehen. Die Polarisierung, durch die sich nun vielleicht die Geister scheiden werden, ist kaum noch rückgängig zu machen: Sie haben sich ganz unnötig Feinde gemacht dadurch. Sie haben ihrer Ideologie vom „radikalen Neubeginn mit jungen Spielern“ leichtfertig die Sympathie vieler geopfert, die auch nach dem misslungenen Weltmeisterschaftsauftritt zu ihnen standen. Retten kann Löw nun nur noch die überragende Leistung eines Teams, das keinen anderen Vorteil dem bisherigen gegenüber hat, als neu und noch jünger als bisher zu sein. Das hat er sich und uns nun eingebrockt.

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Aber er hat ja gar nichts an!

Über die Beweispflicht der Populisten und Extremisten

Die wohl größte geistige Not unserer Zeit ist die allgemeine Ratlosigkeit, was unter „Wahrheit“ zu verstehen sei. Populisten behaupten irgend einen Unsinn oder offensichtliche Lügen, die Evidenz der Lüge ist so offensichtlich wie die Nackheit des Kaisers in Andersens Märchen, aber wie will man es beweisen? Man könnte ja selbst einer Sinnestäuschung erlegen sein. Also ist man lieber still, um nur ja nicht ungerecht zu urteilen.

Warum können wir nicht einfach zur Lüge „Lüge“ sagen wie das Kind in Andersens Märchen? Weil es so scheint, als fehle uns die Stichhaltigkeit des Diktums „Er hat ja gar nichts an“. Das ist deine Wahrheit, heißt es dann allenfalls, die magst du haben, aber es gibt auch andere Wahrheiten. Im Zeitalter des unsocial Web werden wie bei „Des Kaisers neuen Kleidern“ aus solchen „anderen“ Wahrheiten sehr schnell Mehrheiten: Weil alle es sagen, glauben es alle, was ganz leicht geht, indem man nicht hinschaut, was da wirklich ist, der nackte Kaiser nämlich, und dann kann man sage, was man will, man muss es nur einfach stereotyp und dreist genug behaupten, und dann gilt es auch. Wer aber doch einmal hinschielt und zu argwöhnen beginnt, der Kaiser sei so nackt und hässlich, wie er ist, der zweifelt an sich selbst und seinem Anstand: Man muss doch fair sein und tolerant, und man kann doch nicht einfach „Lüge“ sagen zu dem, was andere für Wahrheit halten, die haben doch auch ihre Gründe dafür, und wer weiß: man will sich doch nichts anmaßen, es kann ja durchaus sein, dass man selbst einem Wahn verfallen ist.

Wie ein böser Zauber liegt diese Beklommenheit über der öffentlichen Meinungsbildung. Dabei ist die Lösung so einfach wie die des schlichten Kindes im Märchen. Es gibt ein entblößendes Kriterium, das die Lüge als Lüge entlarvt: die Beweislast. „Necessitas probandi incumbit ei qui agit“ lautete ein Grundsatz des römischen Strafrechts, der bleibende Gültigkeit hat, weil er logisch ist, auf Deutsch: „Die Notwendigkeit des Beweises liegt beim Ankläger“. Das ist der, „qui agit“, der Agitator. Kennzeichnend für Populisten und Extremisten ist: Sie sind grundsätzlich Agitatoren, nicht konstruktiv, nicht am Dialog interessiert, nicht Lernende, sondern Belehrende, sie treten als die Besserwissenden auf und ziehen ihre Kraft aus der Polemik. Sie klagen an, sie unterstellen, sie verdächtigen und beschuldigen und geben ein selbst gestricktes Bild der Wirklichkeit vor.

In Andersens Märchen sind die beiden Weber die Agitatoren. Sie stellen eine neue Behauptung auf, die sich deutlich von dem unterscheidet, was bis dato als Realität gewertet wurde: Dass etwas sei, wo nichts davon zu sehen ist, und zwar genau das, was sie selbst behaupten, und dass man blind dafür ist, wenn man es selbst nicht sieht. Eigentlich ist das primitiv, denn das kann ja jeder sagen. Die Überzeugungskraft der Populisten, Extremisten und dergleichen liegt denn auch gar nicht in den Argumenten selbst, sondern im erzeugten Schein und in der Propaganda. Der Schein wird mit Vorliebe durch die Verknüpfung von Indizien hergestellt: Hier hat man einen „Beweis“ und dort noch einen und so weiter, und damit ist die Behauptung bewiesen. Wesentlicher Teil der Propaganda ist es, Gegenargumente auszublenden, zu leugnen und zu diffaminieren. Am effektivsten ist es, den Beschuldigten genau das vorzuwerfen, was man selber tut.

Die leichtgläubigen Erwachsenen in „Des Kaisers neue Kleider“ machen genau den Fehler, der heutzutage so übel weit verbreitet ist: Sie lassen sich weis machen, die Beweislast dafür, dass sie ihren Augen trauen können, liege nun auf einmal bei ihnen. Dadurch werden sie allesamt zu Mittätern der Propagandisten und dienen deren üblen Zielen. Dabei stünde nicht nur die Logik des Rechts zur Verfügung, um die notwendigen Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge zu ziehen, sondern auch die Logik der Wissenschaft und der Ethik, weil hier eben dasselbe Prinzip axiomatisch gilt: „Notwendigkeit des Beweises liegt beim Ankläger.“ Konkret heißt das für Wissenschaft und Ethik: Du darfst behaupten, was du willst, und du hast grundsätzlich wie alle anderen den Anspruch darauf, damit ernst genommen zu werden. Zum Beispiel darfst du behaupten, dass der momentane wissenschaftliche Konsens über die Gestalt des Universums falsch sei, in Wirklichkeit sei die Erde eben doch eine Scheibe mit dem Himmel als Glocke darüber. Aber die Beweislast liegt bei dir. Es ist nicht damit getan, dass du dieses und jenes Indiz dafür aufführst, sondern du musst a) das gesamte System deiner Gegner überzeugend widerlegen (also im Prinzip auch schlauer als Einstein sein) und b) ebenso überzeugend deine eigene Theorie belegen. Andernfalls kannst du gern weiterhin bei deiner Meinung bleiben, nur stehe dann auch dazu, dass es sich um eine weltanschauliche Sondermeinung handelt, die derzeit wissenschaftlich nicht bekräftigt werden kann. Du darfst auch zum Beispiel behaupten, dass dunkelhäutige Menschen und Frauen (etwas) weniger Gehirn haben und (etwas) minderwertig sind im Vergleich zur „weißen Rasse“ und richtigen Männern. Aber die Beweislast liegt bei dir, weil der ethische Konsens, stark untermauert vom wissenschaftlichen, heute sehr groß ist, dass dem nicht so ist. Du darfst behaupten, dass der Klimawandel gar nicht stattfindet oder harmlos ist und dass Homosexualität kriminell ist. Aber die Beweislast liegt bei dir. Du darfst auch behaupten, dass die Freiheit, in der du lebst und von der du überaus großen Nutzen hast, gar nicht existiert, weil die Demokratie nur eine Seifenblase sei, ein manipulatives Konstrukt der Mächtigen. Du darfst behaupten, dass die Seriosität der Berichtestattung in den freien Medien nur Lug und Trug ist, mitnichten seien sie frei. Aber die Beweislast liegt bei dir.

Um einer Beweislast juristisch, wissenschaftlich und ethisch gerecht zu werden, genügt es nicht, einige Indizien zusammenzuknüpfen und daraus Hypothesen zu formulieren, und schon gar nicht geht es an, diese dann bereits vollmundig als „Wahrheit“ zu deklarieren. Gerade bei ethischen Angelegenheiten wie zum Beispiel der Vertrauenswürdigkeit der demokratischen Politik oder der Pressefreiheit lassen sich kinderleicht viele Indizien dafür sammeln, wie schlimm und verrucht das alles sei, so wie pubertierende Kinder über eine Fülle von „Beweisen“ für die Unmöglichkeit ihrer Eltern verfügen, aus dem einfachen Grund, dass diese wie die Journalisten und Politiker auch nur Menschen sind und Fehler machen, immer wieder auch schlimme und solche mit üblen Konsequenzen. Aber für ein gerechtes Urteil reicht das nicht.

Das, was als wissenschaftlicher und ethischer Konsens aus einem weithin ungezwungenen Diskurs entstanden ist, trägt das Siegel der Glaubwürdigkeit. Man kann davon ausgehen, dass es so ist: man darf sich darauf verlassen. Ohne solche Grundlagen sind wissenschaftliches Forschen und ethischer Fortschritt überhaupt nicht denkbar. Man kann alles anzweifeln, aber es entbehrt der Logik, das zu tun. Doch diese verlässlichen Grundlagen sind nicht zementiert, sondern dynamisch: Vieles bleibt tragfähig, anderes wandelt sich, weil man dazu lernt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn wache und gebildete Menschen, die Dinge anders sehen als die andern, der Beweislast auch tatsächlich gerecht werden. Gott sei Dank geschieht das Tag für Tag. Es findet statt, weil wir noch immer in juristischer, wissenschaftlicher und ethischer Freiheit leben, was nur möglich ist unter den Bedingungen der politischen Freiheit, welche heißt: Demokratie. Gewiss, du darfst das anders sehen. Aber die Beweislast liegt bei dir.

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Was ist Populismus?

„Populus“ hieß bei den Römern das Volk. Popmusik ist Musik für’s Volk, populär ist, was beim Volk ankommt. Mit „-ismus“ können ideologische Anschauungen  mit entsprechenden Zielsetzungen bezeichnet werden; in dieser Hinsicht hat die Endung einen mehr oder weniger negativen Klang. Somit kann man bereits von der Wortgestalt selbst herkommend bestimmen: Populismus ist eine Weise, „das Volk“ zu erreichen, die auf einer bestimmten ideologischen Anschauung beruht. Aber das reicht zur Definition noch nicht hin.

Dem Duden nach ist der politische Populismus eine „von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen (im Hinblick auf Wahlen) zu gewinnen.“ Opportunismus bedeutet in diesem Zusammenhang, sich ohne Rücksicht auf moralische Grenzen Vorteil zu verschaffen, indem man das von sich gibt und für sich nutzt, was „opportun“ ist, mit anderen Worten: das, was mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Zielgruppe ankommt und sich für die eigenen Ziele gebrauchen lässt. Demagogie ist Volksverführung, insbesondere durch das Schüren von Angst und Hass.

Das Adjektiv „populistisch“ meint im Gebrauch nicht immer Populismus im engeren Sinn, sondern auch Verhaltensweisen von Personen, die eigentlich nicht dem Populismus zuzurechnen wären, sich ihm aber anpassen.

Wenn man sich anschaut, wofür das Wort „Populismus“ gemeinhin verwendet wird, kann man die Kriterien noch konkretisieren. Demnach ist Populismus

  • ein gezieltes Vorgehen zum Erreichen überwiegend verdeckt gehaltener Ziele, mit denen ideologische und egoistische Interessen verfolgt werden (auch der radikale Egoismus ist übrigens eine Ideologie),
  • eine Art von Rhetorik, die notorisch um jener Ziele willen skrupellos und als viel gebrauchtes Mittel zum Zweck Lügen benutzt,
  • eine Art von Rhetorik, die auf das Schüren von Angst, Hass, Verwirrung und Entzweigung konzentriert ist,
  • eine Art des Argumentierens, das sich notorisch auf dramatische Behauptungen gründet, die nicht durch seriöse und wissenschaftliche Befunde gedeckt sind (mit Vorliebe Verschwörungstheorien),
  • eine Art des Argumentierens, das notorisch wissenschaftliche Erkenntnisse und seriöse Berichterstattung leugnet und der Unwahrhaftigkeit bezichtigt,
  • eine Art des Auftretens, das nicht nur unrealistische Feindbilder züchtet und pflegt, sondern diese selbst ernannten Feinde auch gnadenlos und niederträchtig diffamiert,
  • ein durchweg von Schwarz-Weiß-Gegensätzen bestimmtes Denken,
  • gegründet auf dem Selbstverständnis, im Gegensatz zu den selbsternannten Feinden die höchsten Werte zu verteidigen,
  • darum grundsätzlich besserwisserisch und misstrauisch gegen alle Andersdenkenden,
  • gegründet auf der Selbstrechtfertigung seines unlauteren Verhaltens durch das Dogma von der Heiligung der Mittel durch den Zweck,
  • sehr auf die Reinerhaltung der sozialen Gruppe bedacht, die sie vertritt oder zu vertreten vorgibt,
  • das Erwecken des Anscheins der Volksnähe und des Eintretens für die Interessen des Volks, wobei dieses tatsächlich aber als dumm und manipulierbar verachtet und für die eigenen Zwecke missbraucht wird,
  • eine antihumanistische Demokratiefeindlichkeit,
  • eine Strategie der Vernebelung immer dort, wo es günstig scheint, den Eindruck der Friedlichkeit und Rechtschaffenheit zu erzeugen.

Die Motive der Populisten sind links- oder rechtsextreme politische oder auch religiöse Ideologien, vor allem aber auch egoistische Geld- und Machtinteressen ohne moralische Grenzen und darum auch mit fließendem Übergang zum Verbrechertum und mitunter engen Verbindungen zu diesem. Populisten sind Wölfe, die am liebsten ohne Schafspelz auftreten, einen solchen aber stets im Gepäck führen, um in dieses Gewand gehüllt zu demonstrieren, wie arg übertrieben und verlogen doch die Unterstellungen ihrer Gegner seien.

Sicher gibt es noch weitere Gesichtspunkte, und um zu recht von Populismus zu sprechen, müssen nicht unbedingt alle genannten Kriterien erfüllt sein. Andererseits stehen sie auch durchaus in einem logischen Zusammenhang.

Deutlich wird an dieser deskriptiven Definition, dass der Unterschied zwischen Populismus und Extremismus vor allem durch den Schafspelz bewirkt ist.

 

 

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Wahre Liebe – wahres Leben

Predigt Ev. Kirchengemeinde Spielberg 5. November 2017 über Mt 10,34-39

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Die offene Flanke schließen!

Ob du es glaubst oder nicht: Es gibt eine ganz einfache Lösung. Lies, poste, twittre – und endlich bricht der bayrische Frühling an!

Die offene Flanke schließen

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Das schwere Ja. Predigt über Letzte und Erste

Das schwere Ja. Predigt Ev. Kirchengemeinde Forchheim am 27.8.2017 über Mt 21, 28-32.

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