Einführung in die Grundproblematik
Vortrag beim CDU-Podium zum Thema in Waldbronn, 21.06.2022
Das Vereinsamungsproblem in Deutschland gleicht einem Eisberg. Die Spitze des Eisbergs sind ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung, die sich ihres Problems der übermäßigen Vereinsamung selbst bewusst genug sind, um bei Befragungen dementsprechend zu antworten. Die Substanz der Spitze ist zu einem großen Teil toxisch. Es handelt sich um eine sozusagen giftige Einsamkeit, die krank macht. Man nennt sie emotionale Isolation. Das heißt: Die Betroffenen kommen emotional nicht mit ihrer Einsamkeit zurecht.
Mehr unter der Oberfläche, aber noch klar erkennbar genug, um Messungen vornehmen zu können, liegt der Teil des Eisbergs, wo die Einsamkeit nicht unmittelbar krank machen muss, aber die Betroffenen dennoch sehr kränken kann. Deren Einsamkeit nennt man die soziale Isolation. Das heißt: Die Betroffenen sind in schmerzlicher und langfristig ungesunder Weise einsam, kommen aber zum Teil damit emotional zurecht, obwohl es hart für sie ist. Hier heißt „messbar“ ebenfalls, dass sich das Problem klar genug durch Fragen ermitteln lässt und somit diese Personen sich ihres Zustands wenigstens einigermaßen bewusst sind.
Von sozialer Isolation betroffen sind mindestens doppelt so viele Personen wie von emotionaler Isolation, allerdings ist die Zahl der emotional Isolierten weitgehend eine Teilmenge der sozialen Isolation, wenn es auch viele emotional isolierte Menschen gibt, die objektiv gesehen nicht sozial isoliert sind. Ich kann mir auch einbilden, dass mich niemand mag und sich niemand um mich kümmert, und das ist durchaus bei vielen Betroffenen der Fall. Sie sind eigentlich in dieser Hinsicht als psychisch gestört oder krank einzuordnen, was natürlich auch die entsprechenden Folgen für sie nach sich zieht. Eine wesentliche Folge ist, dass sie sich aufgrund ihres subjektiven Urteils über die andern selbst isolieren und somit dann die objektive soziale Isolation aus der emotionalen folgt.
Unter diesen beiden Schichten wird es schwierig mit exakten statistischen Daten, was aber nicht bedeutet, dass man hierzu keine wissenschaftlichen Aussagen mehr machen kann. Auch zu diesen tieferen Untergründen der Vereinsamung liegen sehr viele Daten vor, aber was genau sie über die Vereinsamung aussagen, wird erst aus den Zusammenhängen ersichtlich, und die Deutung von Zusammenhängen geht weit über die statistische Forschung hinaus. So viel lässt sich darüber aus dem Befund aber unzweifelhaft sagen: Unsere deutsche Gesellschaft leidet unter einem tatsächlich wachsenden Qualitätsverlust der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Die Auswirkungen dieser schleichenden sozialen Vereisung machen die Grundmasse des Eisbergs aus. Hierzu gehören erstens die mutmaßlich sehr vielen Menschen, die eigentlich wissen, dass sie vereinsamt sind, es aber nicht zugeben, weil sie sich schämen. Zweitens gehören hierzu mutmaßlich noch mehr Menschen, die ihr Vereinsamungsproblem selbst nicht erkennen oder erfolgreich verleugnen. Und drittens gehört hierzu der wiederum statistisch teilweise recht gut messbare Anteil der Menschen, die psychische und psychosomatische Störungen und Krankheiten entwickeln, in denen die Vereinsamung eine entscheidende Rolle spielt, was aber sehr oft nicht diagnostiziert wird, weil sie traditionell nicht als wesentliches Störungssymptom wahr- und ernstgenommen wird. Fast 30 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 80 litten im Jahr 2020 unter einer ernstzunehmenden psychischen Störung oder Erkrankung, was auch schon den Jahren vor der Pandemie entspricht. Die drei Spitzenreiter in der Störungsskala sind übermäßige Angstprobleme, Depression und Sucht. Alle drei haben, was wohl jedem ohne Weiteres einleuchtet, überaus viel mit Vereinsamung zu tun, als Ursache, aber auch als Wirkung.
All das gab es schon vor der Pandemie, aber es hat sich durch die Pandemie signifikant verstärkt. Es gibt auch erfreuliche Gegentrends als Reaktion auf die Pandemie. Die sind aber bisher nicht wirksam genug, um den Trend zur epidemischen Ausweitung des Vereinsamungsproblems aufzuhalten.
Dankenswerterweise wurde wissenschaftlich in den letzten Jahrzehnten ziemlich viel über Einsamkeit geforscht und die Bundesregierung wie auch die Europäische Kommission und Regierungen anderere Nationen haben das Problem als solches erkannt, thematisiert und teilweise erfreuliche Maßnahmen eingeleitet. Aber erkannt heißt nicht gebannt. Wir befinden uns noch in der Anfangsphase der Verwirklichung dieser Maßnahmen, das heißt: Die Stunde der Kommunen und der Subsidiarität ist gekommen. Subsidium heißt „Hilfe“ und gemeint ist: Dass möglichst jeweils vor Ort von denen geholfen wird, die den Willen und das Zeug dazu haben, zugeschnitten auf die örtlichen Bedarfe und Möglichkeiten, statt zentralistische Lösungen zu erwarten und ihr Ausbleiben zu bejammern. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Vereinsamung ist, dem Klischee widersprechend, gar nicht so sehr das Problem alter Menschen. Viele von ihnen kommen ganz ordentlich mit der Einsamkeit zurecht oder sind gut sozial vernetzt. Aber es ist, einfach schon der demographischen Entwicklung wegen, in alarmierender Weise auch ein wachsendes Problem unter den Senioren. Dabei kann so viel geschehen, um das zu ändern. Wir müssen die Generationen wieder zueinander bringen! Zum Beispiel unterstützt die Bundesregierung den Bau von Mehrgenerationenhäusern. Ein paar hundert gibt es davon bislang in Deutschland und ein paar weitere hundert sind geplant. Das ist wunderbar, aber es ist vorerst auch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, oder sagen wir besser: Ein Tropfen heißes Wasser auf den Eisberg.
Unter Vereinsamung leiden Menschen aller Generationen, deutlich vermehrt aber im Gesamttrend und durch die Pandemie erst recht jüngere Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Allerdings: Das Vereinsamungsproblem der heutigen Kinder und Jugendlichen ist komplex und paradox, denn es ist zu einem sehr großen Teil durch den inkompetenten Gebrauch der Bildschirmmedien bedingt. Paradox ist das, weil diese Medien zum allergrößten Teil Kontaktmedien sind. Darin liegt ihre ganz große Chance und ganz oft auch ihr ganz großer Segen. Aber ganz nah beim ganz großen Segen ist, erlauben Sie mir, das in dieser Schärfe zu sagen, der ganz große Fluch.
Ein Medium ist zu Deutsch ein Mittler. Die sozialen Medien als Mittler können eine Tür zwischen den Menschen sein oder eine gläserne Wand. Alles hängt davon ab, ob sie echten Beziehungen dienen oder echte Beziehungen ersetzen. Es gibt einen sehr starken Trend unter jungen Menschen, wenn auch durchaus nicht nur unter ihnen, sich auf möglichst bequeme Beziehungen zu beschränken. Die rasant wachsende Industrialisierung der Informationstechnologie übt einen enormen globalen Einfluss auf die Anwender der modernen digitalen Medien aus, um sie zu abhängigen Konsumenten zu machen. Und sehr viele sind es bereits. Das Suchtmittel ist die bequeme, oberflächliche Beziehung, die vorgibt, das tiefste menschliche Bedürfnis überhaupt, das Bindungsbedürfnis, wunderbar zu erfüllen, und den Durst danach doch nur mit Salzwasser löscht.
Immer mehr herrscht eine kommunikative Oberflächlichkeit vor, mit der sich lauter vereinzelte Menschen von virtueller Blase zu virtueller Blase virtuelle Beziehungsblasen vermitteln, um sich den Schein von Gemeinschaft zu geben. „Sprechblasen“ wäre schon zu viel gesagt, denn selbst das Sprechen meidet man, weil Worte zu bilden ja auch schon etwas unbequem ist. Jene Industrie ist im Begriff, die künstliche Community zu perfektionieren, in der alle Beziehung nur noch virtuell und als Lohn der Abhängigkeit algorithimisch völlig personalisiert auf das jeweilige Individuum in dessen Blase erlebt wird. Dort soll es seine vollkommen lebensecht erscheinende individuelle Traumwelt realisiert finden, so als wäre das die reine Natur, mit dem leibhaftigen virtuellen Traumpartner, immer gerade so, wie es dir gerade passt.
Es ist ein Alptraum, aber es geschieht bereits in verheerendem Ausmaß. Daher kommt es, dass unzählige Menschen nicht nur den allerdümmsten und dreistesten Lügen, von denen sie ihn ihren virtuellen Blasen umspült werden, Glauben schenken, nein, sondern dass es sie gar nicht interessiert, ob etwas Lüge oder Wahrheit ist. Wahrheit ist altmodisch geworden – unterhalten will man sein.
Vor dieser leider düsteren Kulisse hebt sich sehr klar ab, was auf die Bühne unseres notwendigen gemeinsamen Vorgehens gegen das Vereinsamungsproblem gehört: Kein künstliches Theater, keine Show, die mehr Schein verbreitet als Hilfe. Und vor allem: Die Virtualität der neuen Kommunikationsmedien – „Virtualität“ heißt dem Duden nach übrigens „vorgespiegelte räumliche Scheinwelt“ – sie darf nicht über uns herrschen, sondern sie muss uns als verantwortlich und kompetent verwendetes Mittel zum Zweck direkter Begegnungen und Beziehungen von wirklichen, echten, ganzen Menschen mit wirklichen, echten, ganzen Menschen dienen. Für die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts kommt es entscheidend darauf an, dass wirkliche, echte, ganze Menschen wirklichen, echten, ganzen Menschen begegnen, nicht nur punktuell hin und wieder einmal, sondern beständig und verlässlich, so dass viele tragfähige Beziehungen daraus werden, die es erlauben, sich nicht nur so weit zu mögen, wie der Spaß reicht, sondern sich auch leiden zu mögen. Das muss die Maxime aller Maßnahmen gegen Vereinsamung sein, denn nur das überwindet sie.