Zweite philosophische Überlegung

Wozu brauchen wir die Philosophie? Sie ist nichts anderes als Nachdenken über das Leben. Ist irgendeinem Menschen zu empfehlen, das zu unterlassen? Kindern vielleicht, damit sie nicht ihre Unbefangenheit verlieren, indem sie sich viel zu früh mit Erwachsenenproblemen herumschlagen? Im Gegenteil. Nein, denn sie sind schon Philosophen. Sie sind unbefangen und wollen verstehen. Unbefangenheit und unablässiges Verstehenwollen sind die vollkommen hinreichenden Voraussetzungen dafür, ein Philosoph zu sein. Weil die Kinder beides sind, fragen sie. Durch die Unbefangenheit ihrer Fragen bringen sie uns Erwachsene nicht selten in Verlegenheit. „Aber das ist doch ganz klar!“ „Warum?“ So fragt der Philosoph! Wenn Erwachsene nicht mehr weiter wissen, tun sie so, als wüssten sie es doch. Sie geben sich besonders gewichtig: „Das kannst du noch nicht verstehen, dazu bist du noch zu klein!“ Sie geben sich autoritär: „So ist es nun einmal! Die Wissenschaft hat das ganz eindeutig bewiesen!“ Welche Wissenschaft? Welche Wissenschaftler? Könnte es sein, dass manche Wissenschaftler irren? Und wenn die erwachsene Autoritätsperson fromm ist: „Das steht in der Bibel!“ Was steht dort wirklich? Könnte man es auch anders verstehen?

„Aber er hat ja gar nichts an!“ stellt der kleine Junge fest, als in hochfeierlicher Prozession des Kaisers neue Kleider allem Volk präsentiert werden, die von durchtriebenen Pseudowebern mit Pseudogarn gefertigt sind, dem Garn der Nichtigkeit. Keiner der Pseudoerwachsenen sieht es, dieses angeblich herrliche Gewebe, dieses Hirngespinst, aber keiner kann es zugeben. Alle sind befangen – gefangen unter dem Diktat, es wissen zu müssen. Wie peinlich, sich als Nichtwissender zu offenbaren! Dann tut man lieber so, als würde man sehen, was doch niemand sehen kann. Allein: Dieser kleine Junge ist der einzige Philosoph unter all den Neunmalklugen.

Wenn Erwachsene so reagieren, verdecken sie dadurch, dass sie nicht erwachsen geworden sind. Denn erwachsen wird nur, wer Kind bleibt. Wer sich aber das Fragen abgewöhnt, knebelt sein inneres Kind. Was dabei herauskommt, ist Pseudoerwachsenheit. Sie ist übergewichtig, überernst, überanstrengt. Weil sie sich überhebt. Sie ist überheblich. Sie fragt nicht mehr, weil sie beansprucht, genug zu wissen: Ich mache mir keine Gedanken mehr über das Leben, weil ich vom Leben enttäuscht bin, weil ich mir beibringen ließ, zu dumm dafür zu sein, weil ich keine Zeit dafür habe (denn ich muss mir ja schließlich als erwachsener Mensch sehr viel Sorgen um Geld und Ehre machen), weil es sich kuscheliger anfühlt in einem eng begrenzten Horizont. Außerdem muss ich mir ganz grundsätzlich keine Gedanken mehr machen, weil ich nun einmal erwachsen bin. Ich wähle nämlich die richtige Partei, ich verfüge nämlich über ein richtiges Bankkonto, ich lese nämlich die richtige Zeitung und vor allem folge ich dem einzig richtigen Glaubensdogma. Warum ist es so einzig richtig? Weil übergewichtige Autoritäten es behaupten. Die müssen es doch wissen! Warum? Könnte es nicht auch sein, dass sie sich irren? Dass sie sich manchmal allzu wichtig tun? Dass auch sie ihr inneres Kind geknebelt haben?

H.A. Willberg

Über Hans-Arved Willberg

Dr. phil. Hans-Arved Willberg Trainer - Dozent - Publizist Jhg. 1955, vh., 2 Söhne, wohnt in Etzenrot bei Karlsruhe Inhaber Beratungsfirma Life Consult und Leiter Institut für Seelsorgeausbildung (ISA)
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