Predigt zum 2. Sonntag nach dem Christfest
Text: Johannes 1,43-51
Eine geheimnisvolle Unterredung ist das zwischen Jesus und Nathanael. Es wird nicht klar, warum Nathanael plötzlich völlig davon überzeugt ist, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Das Wesentliche des Erkennens vollzieht sich in der persönlichen Begegnung. Johannes berichtet es uns nicht, weil es nicht berichtet werden kann. Denn es ist nicht mit Worten zu vermitteln.
Johannes berichtet. Tatsächlich gehört das Wort Bericht zur Wortgruppe Richten. Berichten meinte früher einmal recht machen, einrichten. Der Sprachgebrauch machte daraus neben dem Bericht auch die Berichtigung. Wir legen uns etwas zurecht, damit es richtig wird. Dass keine Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten darin sind. Dass es jedem Gerichtsurteil stand hält.
Wir alle kennen das: Zuerst berichten wir spontan, reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Dann fangen wir zu überlegen an. Und wir beginnen, unsere Aussagen zu berichtigen. Wir glätten, feilen, sortieren, sortieren aus. Wir wollen der Wahrheit dadurch näher kommen. Aber seltsam, wir merken: Irgendwie stimmt was nicht daran, es wird so kompliziert, Zweifel hat sich eingemischt; einerseits war es so, andererseits aber auch wieder anders – was war es denn nun eigentlich? Kann das sein: Je richtiger ich es machen möchte, desto weiter entferne ich mich von der Wahrheit? Das ursprüngliche Erlebnis erstarrt in Richtigkeiten. Aber stimmt das denn überhaupt noch?
Was ich hiermit angedeutet habe, ist das Problem aller Orthodoxie. Der lutherischen Orthodoxie zum Beispiel, die schon sehr bald nach Luthers Tod die große Leistung vollbrachte, aus dem glühenden Gold der reformatorischen Verkündigung das scharfe Schwert der verbindlichen nachreformatorischen Dogmatik zu schmieden. Ortodoxie heißt Rechtgläubigkeit. Orthos bedeutet richtig, geradelinig, doxa bedeutet Meinung. Orthodoxie: Die richtige Meinung. Die lebendigen Glaubensberichte werden zurechtgelegt, in eine systematische Ordnung gebracht, unorthodoxe Auslegungen sperriger Berichte werden berichtigt, auf eine gerade Linie gebracht, passend gemacht für das dogmatische System. Verarbeitet. Dabei erstarrt das lebendige Glaubenszeugnis. Der glühende Lavastrom der wahren Liebe Gottes für uns Menschen erkaltet und gerinnt zu hartem, dunkelgrauem Gestein. Im schlimmsten Fall bleibt nur noch eine kalte Ordnung verfügter Richtigkeiten übrig. Die lebendige Wahrheit ist zu Paragraphen geworden, der lebendig machende Geist zum toten, tötenden Buchstaben. Der Zweifel wird nur noch dadurch gebändigt, dass sich die Daten reimen: So passt es doch immerhin am besten zusammen, also wird es doch so richtig sein. Hauptsache, dass es richtig ist. Und wehe, es wäre falsch. Fiele dann nicht der ganze Glaube in sich zusammen?
Johannes ist kein Dogmatiker. In ihm pulst die Urgewalt des Evangeliums und er will, dass sie auch den Leser erfasst und erfüllt. Evangeliumsverkündigung bedeutet für ihn, dass wir vom Magma des Liebesvulkans Gottes in seiner Menschwerdung erfasst und selbst zu hell brennenden Lichtern werden, zu wahrhaft liebenden Menschen.
Darum versucht Johannes das scheinbar Unmögliche: Vom wahren Leben so berichten, dass es nicht als erstarrte Lava ankommt, als ein Richtiges, aber nicht Lebendiges und erst recht nicht Lebenserfüllendes, sondern als das Leben selbst. Das ist sein Motto. Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Das Wort will immer Fleisch werden und unter uns wohnen. Das Licht scheint in der Finsternis. Johannes verbreitet nicht Richtigkeiten über das Licht. Er will, dass es uns aufgeht. Sein Bericht ist Zündholz, wir, die Hörer, sind die Reibefläche. Es soll funken und brennen in uns. Das Leben soll auch uns erscheinen.
Darum berichtet er am Anfang seines Evangeliums diese Variante der ersten Jüngerberufung: Komm und sieh! Begegne. Martin Buber hat es auf den Punkt gebracht: Alles wirkliche Leben ist Begegnung. In der Begegnung mit Jesus wandelt sich der rechtgläubige Nathanael zum Christusbekenner. Wandlung: Geheimnis des Glaubens. Nun wird er Jesus folgen.
Folgen ist Gehorchen. Es gibt ein Folgen des Glaubens, das von Richtigkeiten bestimmt ist und es gibt das Folgen lebendiger Weggemeinschaft. Ein Folgen in Angst und ein Folgen in Vertrauen. Mache ich auch alles richtig? So fragt, wer in Angst folgt. Weh mir, wenn ich etwas falsch mache! Das ist der Gehorsame, der sich vor Strafe fürchtet. Darum folgt er. Nicht, weil er will. Nicht, weil er versteht. Sondern weil er muss. Das ist eine Frömmigkeit, die nicht aus der lebendigen Christusbegegnung hervorgeht. Das Geheimnis des christlichen Glaubens ist aber das Geheimnis der persönlichen Liebesbeziehung zu Jesus Christus. Gehorsam gegen Gott ist nur dann wirklich Gehorsam, wenn er selbstverständlicher Ausdruck dieser Liebesbeziehung ist. Wider-williger Gehorsam, Gehorsam wider den Willen also, ist nicht wahrer Gehorsam, weil er von Angst bestimmt ist.
Darum wurde Gott Mensch: Dass wir im Menschen Jesus seiner Liebe leibhaftig und glaubwürdig begegnen können. Wir brauchen das. Wenn uns nicht das Licht seiner Liebe aufgeht, bleiben wir in Angst. Unser Glaube kommt nicht über das Bekenntnis zu Richtigkeiten hinaus. Er wird nicht Fleisch, er wird nicht lebendig. Er wird von Angst bestimmt. Er fürchtet sich vor Strafe.
Gott ist die Liebe, schreibt Johannes. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. Vollkommen bedeutet nicht: Alles richtig zu machen. Ganz und gar nicht! Vollkommen meint in der Bibel etwas ganz anderes als perfekt. Es meint völlig, ganz, ungeteilt. Vollkommen in der Liebe zu Gott sein heißt: Wirklich vertrauen. Sonst nichts. Und sich nicht fürchten bedeutet nicht Pfeifen im dunklen Wald – Augen zu und durch. Ganz und gar nicht. Sondern: Augen auf und Gottes Liebe sehen! Konsequent weg vom Furchterregenden und hin zum Licht, zum Leben, zur Liebe. Vollkommen weg von der Angst, völlig hin zum Trost, ungeteilt, mit ganzem Herzen, mit voller Konzentration.
Wo das Licht ist, da ist der Trost. Nicht einfach nur, weil es hell ist. Helligkeit ist nicht automatisch tröstlich. Licht kann gnadenlos, kalt und sehr unpersönlich sein. Nicht aber das Licht der Liebe Gottes. Es ist voller Gnade, Wärme und es ist sehr persönlich. Es strahlt in der persönlichen Begegnung mit der ganz menschlichen, warmherzigen und überaus freundlichen Erscheinung Gottes in Jesus Christus auf. Es ist das pure Leben. Das Leben ist erschienen, und das Leben war das Licht der Menschen, bezeugt Johannes in den Eingangsversen seines Evangeliums. Nichts als wahres Leben begegnet in Jesus. Und dieses wahre Leben ist voller Liebe. Nichts als Liebe ist dort, wo das wahre Leben ist. Das Geheimnis des Glaubens ist das Geheimnis wahren, wirklichen Lebens. In ihm ist das Leben, berichtet Johannes. Er will es nicht nur berichtet haben. Er will es vermitteln.
Das Geheimnis des Glaubens offenbart sich in der Erfahrung und Gewissheit, persönlich von Gott gesehen zu werden. Das ereignet sich zwischen Jesus und Nathanael: Jesus sieht ihn und indem er ihn sieht, begegnet ihm Gott. Dieses Sehen ist ein tiefes, barmherziges, vollkommen bejahendes Verstehen. Das erreicht und berührt Nathanael. Es überzeugt ihn von der göttlichen Autorität dieses Menschen Jesus – dass er der Messias ist.
Ich sah dich, sagt Jesus zu ihm. Das überzeugt Nathanael. Denn als Jesus das sagt, erfüllt sich sein allertiefstes Bedürfnis: Gesehen zu werden. Angesehen, verstanden und bestätigt zu werden. Das hat sich schon im Gruß Jesu angebahnt: Siehe, ein rechter Israelit. Jesus schmeichelt nicht, Jesus versteht. Nathanael ist überrascht: Woher kennst du mich? Er fühlt sich nicht ertappt, er fühlt sich in seiner Würde und Eigenart wahrgenommen, angenommen und geehrt.
Was der Bericht nicht beschreiben kann, weil es nicht in Worte fassbar ist, das ist die Tatsächlichkeit des Gesehenwerdens, die in diesem Augenblick geschieht: Jesu Körperhaltung, der Ton seiner Stimme und vor allem sein Blick, der voller Liebe ist. Seine Ausstrahlung. Das ist die lebendige Begegnung. Sie berührt Nathaneel so tief und klar, dass es keinen Zweifel mehr gibt. Das meint Johannes, wenn er bezeugt: Wir sahen seine Herrlichkeit. Das ist die Herrlichkeit: Der Blick der wahren Liebe des wahren Mitmenschen Jesus. Das ist derselbe Blick, der Petrus im Hof des Hohenpriesters traf, nachdem er Jesus drei mal verleugnet hatte. Der Blick tiefsten Erbarmens, tiefsten Verstehens. Der Blick ohne jeden Hauch des Vorwurfs. Das ist der Blick des Vaters, der den Verlorenen Sohn in seine Arme schließt. Das ist die reine Liebe. Sie vertreibt alle Furcht vor Strafe.
Das Doxa in der Ortho-doxie, das dort Meinung heißt, ist im Neuen Testament ein ganz wichtiges und häufiges Wort. Aber es hat dort eine ganz andere Bedeutung: Glanz, Lichtschein, Majestät, Ruhm, Ansehen, Ehre. Die rechte Doxa des Neuen Testaments ist nicht die richtige Meinung, sondern die Begegnung mit dem majestätischen Glanz der wahren Menschenliebe Gottes in Jesus Christus.
Glaube oder Nicht-Glaube, Leben oder Tod, Liebe oder Verzweiflung, Licht oder Finsternis, Wahrheit oder Lüge. Ob ich hier bin oder dort, hängt ganz allein von dieser Begegnung ab.
Der Bericht ist nicht die Sache selbst. Er ist Wegweiser. Darin hat auch die rechte Lehre, die Dogmatik ihren guten Sinn: Wegweiser zu sein. Schlimm ist es, wenn der Wegweiser mit dem Weg verwechselt wird. Eine Stadtplan von Karlsruhe ist etwas deutlich anderes als Karlsruhe. Eine gute Ortsbeschreibung kann etwas vom wahren Charakter der Stadt vermitteln, aber sie offenbart ihn nicht. Ich muss dort sein, damit sich mir Karlsruhe offenbart. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.
Nicht anders ist es mit dem Glauben. Ich muss dort sein, kommen und sehen. Erfahren, dass ich von Gott gesehen bin. Dass ich seiner Liebe glauben kann.
Verkündigung ist Wegweisung. Wohin? Alles kommt darauf an, dass ich den Blick Jesu suche. Das soll meine Antwort auf diese Predigt sein.
Die Physik kennt zwei entgegengesetzte Kräfte, die bei Drehbewegungen auftreten: Die Zentripetalkraft zieht nach innen, dem Mittelpunkt zu, die Zentrifugalkraft treibt nach außen, vom Mittelpunkt weg. Der Blick Jesu ist die Zentripetalkraft, die uns in der Liebe hält und aus der Liebe leben lässt. Das Angesehensein. Unser Ansehen, das wir bei Gott haben. In der Hoffnung und im Vertrauen. Im Licht der Dankbarkeit und Lebensfreude. Für mich selbst bekenne ich mit Petrus: Wenn dieser Blick mich nicht trifft und hält, sind die Zentrifugalkräfte viel zu groß, die mich aus dem Leben in den Tod reißen: den Tod des Vertrauens, den Tod der Hoffnung, den Tod meiner Liebe zum Leben, zu den Mitmenschen, zu Gott. Ohne den Anblick seiner Liebe sind die Gegenargumente viel zu überzeugend. Mit Luther bekenne ich darum: Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren. Den Glauben bewahre ich mir nicht selbst und auf erstarrte Richtigkeiten kann ich gern verzichten. Christ, der Retter, ist da. Ich bekenne, dass ich ihn dringend nötig habe.
Amen
Hans-Arved Willberg