Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres
Wochenspruch: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“ 2. Korinther 5,10
Leitmotiv: Das Endgericht
Offenbar zu werden setzt voraus, dass es etwas gibt, das zu offenbaren ist. Eine noch verborgene Wahrheit. Die postmoderne Leugnung fest stehender, allgemein verbindlicher Wahrheiten überhaupt scheint die Verweigerung eines logischen Schlusses zu sein, den in der Praxis jeder zieht, so wie kein vernünftiger Mensch behauptet, das Ergebnis von zwei plus zwei sei ein Fragezeichen. Wir entkommen der Wahrheit nicht. Die Behauptung, es existiere überhaupt keine wirkliche Wahrheit, kann nur dann sinnvoll sein, wenn sie für ihre Aussage Wahrheit beansprucht: „Ich sage euch die Wahrheit: Es gibt kein Wahrheit!“ Also gibt es sie doch: Deine Wahrheit. Ich wundere mich, wie verbreitet dieser Denkfehler derzeit ist und mit welcher diktatorischen Macht er auftritt. Mit militantem Absolutheitsanspruch wird jeder Absolutheitsanspruch verteufelt. Was ist ein Absolutheitsanspruch? Nichts anderes als die Behauptung einer unumstößlichen Wahrheit.
Diese merkwürdige Kurzschlüssigkeit des Denkens selbst klügster Köpfe entsteht aus der falschen Annahme, dass wahr nur etwas sein könne, das man begreifen, beschreiben, ausmessen, wiegen kann. Demgegenüber hat Jesus darauf hingewiesen, dass der Geist der Wahrheit, der Heilige Geist, das Wesen der Wahrheit schlechthin, dem Wind vergleichbar nur von seinen Wirkungen her rückschließend wahrgenommen werden kann. Weil sich Blätter bewegen, weil ich einen gewissen Druck auf der Haut spüre, folgere ich daraus den Wind, der mir selbst aber ungreifbar und unsichtbar bleibt. Hinter jeder Wirkung ist ein Wesen, alles Dasein weist hinter sich zurück auf ein Sein, dem es entstammt. Von Nichts kommt nichts. Wir wissen das Dasein, es ist Natur, und die Lehre vom Wissen um die Natur nennen wir Naturwissenschaft. Aber das Sein, das Wesen, die Wahrheit der Dinge schlechthin, wissen wir nicht, denn das ist uns unbegreifbar. Wir können das nur glauben und wir können nicht anders, als es glauben zu müssen.
Da hinein redet der Wochenspruch: Auch wenn ihr es nicht glauben wollt, ihr müsst es doch glauben und ihr werdet es einmal nicht mehr leugnen können: Es ist eine Ewigkeit, es gibt Letztgültiges, darauf seid ihr Menschen bezogen. Ihr seid darum verantwortlich, jenseits aller Relativierungen. Und das wird sich offenbaren.
So ist alles Ewige: Es kann nicht gewusst werden, es kann sich nur offenbaren. Es ist und bleibt Geheimnis. „Richterstuhl Christi“ sagt Paulus zum Mysterium der letztendlichen Offenbarung, die alle Lüge und allen bloßen Schein wegnimmt. Das ist eine paradoxe Formulierung, die zum Meditieren einlädt: Den Platz des strengen Richters nimmt der barmherzige Erlöser ein. Der wahre Mensch. Das ewige Leben ist die vollkommene Herrschaft der Liebe.
Hans-Arved Willberg